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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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Zwölf, die Dreizehn. Immer drängender wurde die Stimme in ihren Gedanken, immer fordernder der Wunsch des unsichtbaren Wesens, sie auf dem Dach des Hauses zu sehen.
    Ihre Kraft war ungebrochen. Als die Achtzehn und die Neunzehn auftauchten, atmete sie kaum schneller als im Parterre, nur die Tasche mit den neuen Laufschuhen hatte sie unterwegs fallen lassen. Sie erreichte die solide Metalltür, die aufs Dach führte, zerrte daran und öffnete sie. Geduckt lief sie auf das flache Dach hinaus. Dichte Flocken stoben ihr entgegen. Sie musste sich mit aller Macht gegen den beißenden Wind stemmen, um nicht dasGleichgewicht zu verlieren. Eine Böe fegte ihr die Mütze vom Kopf und ließ ihre langen schwarzen Haare flattern.
    »Komm zu mir!«, rief die unheimliche Stimme. Sie klang wenig verlockend, doch Candy gehorchte und stolperte über das Dach zu den beiden Kaminen, die als dunkle Schatten aus dem Schneetreiben ragten. Mit beiden Händen hielt sie sich daran fest. Die Backsteine waren erstaunlich warm, gaben ihr für einen Augenblick das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
    Ein Gefühl, das nur wenige Sekunden anhielt. Gleich darauf hüllte sie wieder frostige Kälte ein und zog sie von den Kaminen weg, quer über das Dach zu der hüfthohen Betonmauer, die das Dach vom Abgrund trennte. Ein letzter Impuls aus der Zeit, bevor sie die Stimme gehört hatte, hinderte sie noch daran, über die Mauer zu steigen und in die Tiefe zu springen. Ihr Blick ging zwischen den Wolkenkratzern der Michigan Avenue hindurch, über den Fluss zum Lake Michigan, der weit und scheinbar endlos vor der Stadt lag und sich im Schneetreiben und in der Dämmerung des frühen Abends verlor.
    »Spring, Candy! Hab keine Angst!«, rief die Stimme. Mit ihrem Echo kroch eisige Kälte durch ihren Körper und ließ ihr Herz und ihre Seele gefrieren. Von der Stimme des unsichtbaren Wesens und seiner frostigen Berührung getrieben, kletterte sie über die Betonmauer und ließ sich in die Tiefe fallen. Sie schrie nicht, und die wenigen Tränen, die in ihren Augen gestanden hatten, waren längst zu Eis gefroren. Weit unten schlug ihr Körper auf den Asphalt.

1
    Sarah Anderson stand an einem der schmalen Fenster der riesigen Ausstellungshalle und blickte auf die Wolkenkratzer des Loop. Keine Skyline war beeindruckender als die von Chicago, doch im Schneegestöber wirkten die dunklen Umrisse der Hochhäuser wie gefährliche Monster, die durch das Unwetter zum Seeufer stapften und alles zu verschlingen drohten, was sich ihnen in den Weg stellte. So wie der Wendigo, das Ungeheuer, von dem ihr Großvater im Winter oft erzählt hatte.
    Erschaudernd wandte sie den Blick von den Wolkenkratzern und blickte auf den Lake Shore Drive hinab. Auch der Linienbus vor dem Museum war nur schemenhaft zu erkennen. Als er auf die Schnellstraße bog, bewegten sich seine Rückleuchten wie Irrlichter durch den Flockenwirbel.
    Ohne das Fenster vor ihren Augen zu berühren, wusste sie, wie kalt die Scheibe war. Sie war dieses Wetter gewöhnt, nicht erst seit sie in Chicago wohnte. In ihrer Heimat waren die Winter noch strenger. In der kleinen Siedlung, in der sie als Kind gewohnt hatte, fegte der Nordwind schon im September um die Häuser, und wer im Oktober noch keine Ketten an seinem Pick-up hatte, brauchte gar nicht erst loszufahren. Ein Sprichwort ihres Volkes sagte, dass es nur zwei Jahreszeiten in ihrer Heimat gab, den Winter und die kurze Zeit, während der sie die Schlaglöcher reparierten. Wenn sie an den Winter dachte, sah sie sich als kleines Mädchen auf einer Wolldecke sitzen und ihrem Großvater zuhören, der aufregende Geschichten zu erzählen wusste.
    Sarah war stolz auf ihre indianischen Vorfahren, auch deshalb hatte sie Anthropologie und Geschichte auf dem College belegt und danach als Kuratorin im »Field Museum of Natural History« in Chicago angefangen. Ein besseres Museum, um die Vergangenheit ihres Volkes zu studieren, gab es nicht, auch wenn sie endlose Überstunden absolvieren musste, um Ausstellungen wie »Mythen und Legenden der Ojibway-Indianer« zusammenzustellen. Sie war selbst eine Anishinabe, wie die Ojibway sich nannten, auch wenn das niemand wusste. Sie erzählte überall, dass sie bei den Irokesen aufgewachsen war, und tatsächlich sah sie wie eine junge Frau dieses Volkes aus: die hohe Stirn, der klare Blick ihrer dunklen Augen, die leicht hervorstehenden Wangenknochen, das energische Kinn. Die langen Haare, schwarz wie das Gefieder eines

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