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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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setzte sich. Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen die Hütte. In ihrem Zustand hätte sie sowieso nicht weiterlaufen können. Sie brauchte dringend etwas Ruhe. »Jonathan«, sagte sie. »Ich bin Sarah Standing Cloud.«
    »Anishinabe?«, fragte er.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich bin auch ein Anishinabe. Ich gehöre zur Mille Lacs Band in Onamia.« Er blickte sie forschend an, schien etwas in ihren Augen zu entdecken, das ihm nicht gefiel. »Du hast Schmerzen, nicht wahr?« Es klang mehr wie eine Feststellung. »Ich bin kein Medizinmann, aber ich weiß, wie man diese Schmerzen vertreibt. Beug dich nach vorn.« Und als sie zögerte: »Hab keine Angst, mein Kind, ich tue dir nicht weh.«
    Sie gehorchte ihm und spürte seine alten und sanften Hände in ihrem Nacken. Beinahe liebkosend massierten sie die schmerzende Stelle. Woher er wusste, dass die Schmerzen sie dort plagten, konnte sie sich nicht erklären. »Das tut gut«, sagte sie.
    Nach einer Weile hörte er auf und bat sie, sich wieder aufzurichten. Er überhörte Elaines leises Kichern, in dem wohl auch ein wenig Eifersucht mitschwang, und fragte: »Besser so?«
    Sie drehte vorsichtig den Kopf und sah ihn dankbar an. »Viel besser, Jonathan. Du bist ein großer Medizinmann.«
    Er lächelte. »Die Zeiten, als ich Mitglied der Midewiwin war, liegen lange zurück. Ich bin ein Ausgestoßener. In den alten Zeiten hättest du nicht mal mit mir sprechen dürfen. Ausgestoßen zu sein, war schlimmer als der Tod.«Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, als hätte er Mühe, die Tränen zu unterdrücken. »Hast du Durst?«
    Sie befürchtete schon, er würde eine Schnapsflasche unter seiner Decke hervorkramen. Stattdessen brachte er eine Wasserflasche, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen konnte, zum Vorschein. Das Etikett war weg. »Ich habe Schnee geschmolzen, wie unsere Vorfahren, wenn es keinen Fluss gab.«
    »Du bist sehr freundlich, Großvater«, benutzte sie die respektvolle Anrede ihres Volkes. Sie trank einen kleinen Schluck und reichte ihm die Flasche zurück. »Ziemlich kalt für so eine Nacht.«
    »Das ist wahr«, erwiderte Jonathan. Er lächelte zufrieden, erfreut darüber, wie sehr sich eine junge Frau an die Gepflogenheiten hielt und bei einer Begegnung erst einmal Belanglosigkeiten austauschte, bevor sie auf die eigentlichen Probleme zu sprechen kam. »Heißer Kaffee wäre mir jetzt auch lieber.«
    »Wenn ich Geld dabeihätte, würde ich dir welchen kaufen«, sagte Sarah. »Ich habe meine Handtasche verloren. Alles, was ich habe, ist ein CTA-Pass.«
    »Eine Karte für die Hochbahn? Das ist mehr, als ich von mir behaupten kann.« Er tätschelte Sailor, der neben ihm aufgetaucht war, und überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass die Zwillinge und die Frau sie in Ruhe ließen. »Wirst du verfolgt, Sarah?«
    Sie blickte ihn überrascht an. »Wie kommst du denn darauf, Großvater?«
    »Ich habe Polizeisirenen gehört, bevor du unter die Brücke kamst. Und du blickst ständig in die Ferne. Das tun nur Menschen, die auf der Flucht sind. Glaube mir, ich weiß, wie ein Mensch aussieht, der vor etwas davonläuft. Ich laufe seit zwanzig Jahren davon. Vor meinem Volk, das michim Stich ließ, als mein Haus abbrannte. Vor meiner Frau, die mich verließ, als ich sie am nötigsten brauchte. Vor den Verwandten, die mich in ein Heim für geistig Kranke sperren wollen. Ich weiß, wie sich ein Mensch fühlt, der vor etwas davonläuft. Wovor läufst du davon, Sarah?«
    Sarah schwieg eine Weile. Jonathan respektierte ihr langes Schweigen; die Zwillinge und die Frau kümmerten sich schon längst nicht mehr um sie und ließen die Flasche kreisen, die einer der Männer in seinem Rucksack wohl als eiserne Reserve aufbewahrt hatte. Sailor stöberte im Abfall neben einem Container.
    Sie hatte schon den Mund geöffnet, um den Namen des gefürchteten Wintergeistes auszusprechen, als der Wind seine Richtung änderte und eisigen Schnee unter die Brücke blies. Die Zwillinge duckten sich erschrocken. Elaine fluchte ungeniert. Sailor sprang winselnd davon. Das Feuer duckte sich zischend unter der Nässe, überlebte nur mit wenigen Flammen, die aber gleich darauf ein Opfer des stürmischen Windes wurden.
    »Wendigo«, erschrak der alte Indianer. »Du hast Angst vor dem Wendigo!«
    Mit dem Wind kam ein Streifenwagen über die Uferstraße. Sarah blieb fast das Herz stehen, als er unter der Brücke stehen blieb. Die Augen des Officers, der ausstieg und langsam durch den Sturm

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