Winterkind
„tun wir ja. Meinense, wir sind blöd? Aber wissense auch, was so ein Turm für einen Zug hat – Luftzug, mein ich? Was glaubense, warum die Dinger meistens auf Hügeln stehn, wo’s richtig schön windig ist? Wenn die Stahltür schmilzt und der Große da oben einmal ordentlich Luft holt … Niemand kann das dann noch aufhalten. Egal, ob da noch Stapel Holz drin rumliegen oder nich. Verstehnse das jetzt endlich? Es wird Tote geben, Frolleinchen. Also, lassense mich jetzt die verdammten Waschkessel holen?“
Es wird Tote geben … Sophie nickte schaudernd und gab den Weg frei. Als Marek und zwei, drei andere an ihr vorbeistapften, hallte der Satz immer noch in ihr nach. Es wird Tote geben. Menschen werden sterben … All ihre Sorgen, ihre eigenen Ängste verblassten gegen diesen einen, grausigen Satz. Dass er wahr war, sagte ihr Willems bleiches Gesicht.
Sie starrte blicklos in den zertretenen Schnee. Als die Männer zurückkamen, die riesigen metallenen Waschkessel auf den Armen, das Spülmädchen im Schlepptau, richtete sie sich auf, sah Marek in die Augen und sagte: „Ich komme mit. Ich helfe.“
„Du bist doch verrückt, mien Deern“, polterte Willem los, „was willst du schon …“
„Frollein Sophie“, kreischte Lieschen auf, „Sie können doch nicht …“
Marek hielt Sophies Blick, einen Moment lang. Nickte er dabei? Sophie hob das Kinn noch etwas höher.
„Ich kann“, sagte sie, „und ich werde. Lieschen, geh rein und kümmer dich um Johanna. Und wage es ja nicht, wieder das Haus zu verlassen. Und du …“
Das Spülmädchen stand bei den Männern, die Arme um einen großen Kochtopf geschlungen. Es wagte kaum, zu ihr aufzublicken.
„Meine Brüder“, murmelte es, „sie arbeiten auch in der Hütte …“
Sophie nickte knapp. Dann griff sie hinter sich in die Garderobe und holte ihren Mantel heraus.
Johanna stolperte auf die Prinzessin zu. Im fahlen Winterlicht war sie nicht mehr als ein geisterhafter Umriss, ein flüchtiger Schemen, der mit der Umgebung verschmolz. Johanna streckte die Hände nach ihr aus, fiel in den Schnee, der sie fast verschluckte, ihr in Mund und Nase drang. Auf allen vieren kroch sie weiter. Schnee geriet ihr unter den Mantel, in die Ärmel, in die Stiefel. Ihre Zähne fingen an, aufeinanderzuschlagen, sie biss sich dabei auf die Zunge, schmeckte das Blut heiß und metallisch im Mund.
Dann stieß ihr Kopf sacht gegen etwas Hartes. Sie sah auf, und das steinerne Bassin der Prinzessin ragte über ihr auf. Sie schlang die Arme um seinen Fuß, zog die Beine an. Machte sich unter dem Mantel so klein, wie sie konnte. Der Schatten der Prinzessin fiel über sie.
War sie jetzt in Sicherheit?
Es war so kalt, so furchtbar kalt. Der Wind trieb die scharfkantigen Flocken unter das Bassin. Sie krümmte sich noch stärker, vergrub das Gesicht in den Armen, im rauen, seltsam riechenden Mantelstoff. Was war das, wonach er duftete? Die Tränen stürzten noch heftiger, als es ihr einfiel: Erde, frische braune Frühlingserde, danach roch der Mantel, und eine Sehnsucht packte sie, die noch unerträglicher war als die Kälte. Frühling, leuchtende Sonne, sanftes Gras! Picknicks im Park mit Fräulein Sophie. Und Frau Mama, die vom Fenster aus herüberwinkte und lachte … Frau Mama …
Frau Mama ging niemals nach draußen. Niemals.
Johanna kauerte sich zusammen.
Sie geht nicht nach draußen, murmelte sie lautlos vor sich hin. Sie geht nicht nach draußen, sie geht nicht nach draußen …
Aber noch während sie den Kopf auf die Arme sinken ließ, nahm sie aus den Augenwinkeln die dunkle Gestalt wahr, die sich durch das Schneetreiben langsam auf sie zubewegte.
Im Herrenhaus schloss Lieschen langsam die Haustür.
„Fräulein Johanna?“, rief sie leise, fragend, in die Halle hinein und zog den feuchten Mantel aus. „Kleines Fräulein? Gnä’ Frau? Es ist alles gut. Sie sind weg.“
Niemand antwortete. Lieschen durchquerte die Halle und hängte den Mantel an die Klinke der Kellertür. Ihre Schritte polterten laut in der Stille.
„Gnä’ Frau?“ Hatten die da oben wirklich nichts gehört? Die Gnädige musste sich hingelegt haben. Kein Wunder, so erschöpft, wie sie war in den letzten Tagen. Auf Zehenspitzen stieg Lieschen die Treppe hoch, in den ersten Stock.
Johanna wusste, dass die Gestalt näherkam. Mit jeder Minute, die verstrich, mit jedem Atemzug, den sie tat. Sie presste die Nase in den alten Mantel, roch den tröstlichen Geruch der Erde. Unterdrückte die
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