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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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dahinter versank im letzten trüben Tageslicht. Keuchend, ratlos blieb Johanna stehen. Sie konnte kaum atmen vor Angst. Wohin nur, wohin?
    Sophie! Sie wandte sich nach links, dem Flur zu, aber von dort kam ein entsetzliches Poltern, und sie zuckte zurück. Über ihr, auf der gewundenen Stiege, klangen Schritte. Langsame, stetige Schritte. Und schwerer Stoff rauschte, der sich an Stufen verfing … Sie schluchzte auf. Wohin, wohin?! In der Hintertür steckte kein Schlüssel. Sie musste für den Abend schon abgeschlossen sein. Die Schritte kamen näher.
    Johanna schluchzte auf. Drückte die Klinke, verzweifelt, sinnlos.
    Quietschend sprang die Tür auf. Kälte schlug ihr ins Gesicht. Einen Augenblick blieb sie vollkommen reglos stehen.
    Dann riss sie einen alten Gärtnermantel vom Haken, der dort seit dem Sommer hing, zerrte ein paar riesige Stiefel über ihre nackten Füße, die darunterlagen.
    Und rannte los, in den Park hinaus.

    Bumm, bumm.
    Alles Blut wich Sophie aus dem Kopf. Sie klammerte sich am Türrahmen fest. Bilder schossen an ihr vorbei, brennende Fackeln, aufgerissene Münder. Eingeschlagene Fensterscheiben, umgestürzte Kutschen.
    Bumm, bumm, bumm.
    Das Hämmern an der Haustür schien in ihrem Körper wie ein Echo zu hallen.
    Sie kamen. Oh Herrgott, jetzt kamen sie.
    Sie riss sich aus der Erstarrung, lief auf den Flur. Nichts regte sich im Haus. Hörte es denn niemand außer ihr? Sie wollte rufen, nach Lieschen, nach Johanna, aber das Bumm, bumm, bumm dröhnte wieder und schnürte ihr die Kehle zu. Sie rannte die Haupttreppe hinunter, ins Erdgeschoss, in die Halle.
    Bumm, bumm, bumm, bumm!
    Die Haustür knirschte in ihren Angeln. Sophie rang sinnlos die Hände, wandte sich nach rechts, nach links, wieder nach rechts. Die Kellertür unter der Treppe öffnete sich, und mit weit aufgerissenen Augen lugte das Spülmädchen hervor.
    „Was ist los?“, fragte es flüsternd. „Wer ist denn da?“
    Sophie starrte ihr ins Gesicht, ohne sie wirklich zu sehen. Stimmen kamen von draußen, durch die dicke Haustür hindurch. Rufen, Gebrüll. Dunkle Schemen zeichneten sich hinter dem Glas ab. Sie bewegten sich hin und her.
    Bumm, bumm!

    Gefrierende Tränen verklebten Johanna die Wimpern, sie sah kaum, wohin sie lief. Aber es war gleichgültig, weil der Schnee alle Wege verschluckt hatte. Die Kälte biss ihr ins Gesicht, der Wind zerrte an ihren Haaren. Der Mantel war schwer und kratzte und hing ihr bis auf die Stiefel, in denen ihre Füße rutschten und langsam zu Eisklumpen wurden. Aber sie hielt nicht an. Ihre Beine waren so schwach, dass sie immer wieder stolperte und im Schnee steckenblieb, ihre Kehle brannte von der schneidenden Luft; sie hörte ihre eigenen, krächzenden Schluchzer und fühlte den Boden an sich zerren, der sie dazu bringen wollte, sich einfach hinzulegen und aufzugeben. Sie tat es nicht. Sie lief und schluchzte und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.

    Bumm!
    Langsam, wie in Trance, ging Sophie auf die Haustür zu. Der Schlüssel steckte von innen. Die Hand, die sie darum schloss, zitterte. Sie fühlte es nicht, sah auf die zuckenden Finger hinab, als gehörten sie nicht zu ihr.
    „Oh, nicht, Frollein“, flüsterte das Spülmädchen, „öffnen Sie man lieber nicht!“
    Aber was sollte sie anderes tun? Abwarten, bis sie die Tür eingeschlagen hatten? Sie waren da. Und sie würden nicht wieder fortgehen.
    Bumm, bumm! Das schwere Holz knirschte in den Angeln.
    Sophie fing an, mit tauben Fingern den Schlüssel zu drehen.
    „Aufmachen“, schrie es jetzt ganz deutlich draußen. „Bitte, machense doch auf!“
    Bitte? Hatte sie wirklich dieses Wort gehört? Sophie stutzte. Aber da klang es schon wieder, durch das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf hindurch, scharf, dringlich:
    „Bitte, hörense denn nich?“
    Mit einem Ruck drehte Sophie den Schlüssel herum und riss die Haustür auf.
    „Endlich, Frolleinchen!“
    Marek fiel ihr fast entgegen. Andere Männer drängten sich hinter ihm, alle nahmen ehrerbietig die Mützen ab. Ihre Gesichter waren angespannt, aber nicht vor Wut. Keiner sah aus, als wollte er Fenster einschlagen oder Möbel verbrennen. Im Gegenteil.
    Die Männer hatten Angst.
    Sophie starrte fassungslos, aber Marek ließ ihr keine Zeit. Er packte sie am Ellenbogen, bohrte seine dunklen Augen in ihr Gesicht und sagte:
    „Wir brauchen Behälter. Große Behälter. Möglichst viele davon.“
    „Was?“ Sophie musterte ihn entgeistert. „Wovon reden Sie? Was wollen Sie hier?

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