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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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nervöse Blicke zu der Stahltür, die den Raum zur Halle hin verschloss. Wie mochte es inzwischen wohl dahinter aussehen? Nach den Wortfetzen, die sie immer wieder mal aufschnappte, stand es nicht gut um die gerissene Schmelzwanne. Wie viel rotglühendes Glas suchte sich im Augenblick schon seinen Weg dort drüben? Auf die Stahltür zu, die so nahe war? So dickes Metall – es war kaum vorstellbar, dass es irgendetwas auf der Welt geben sollte, das ihm etwas anhaben konnte. Und doch war es so. Marek hatte es ihr gesagt. Und die Hast, mit der die Männer um sie herum arbeiteten, um die Kisten fortzuschaffen, sagte es ihr auch.
    Mühsam schleppte sie die Kiste nach draußen. Der kalte Wind riss ihr an den Haaren, Schneeflocken stachen ihr boshaft in die Augen. Ihre Arme brannten. Auf dem Vorplatz traf sie Marek wieder; er kniete vor einem mit Schnee gefüllten Waschkessel und rieb sich das rußverschmierte Gesicht ab. Unter dem Ruß kamen rote Blasen zum Vorschein.
    „Kommense voran?“, fragte er, ohne aufzuhören. Sophie nickte zögernd. Er warf einen Blick auf den Kistenstapel, der sich auf dem Vorplatz türmte. „Das geht nich schnell genug. Wir ham drüben schon den zweiten großen Riss. Die Wanne ist viel zu schnell zu stark befeuert worden, wissense? Das halten die nich aus. Aber es muss ja immer alles gleich sein, jetzt, sofort … Warten kennen die Herrschaften ja nich. Naja. Jetzt sieht man, was man davon hat.“
    Er spuckte schwarzen Ruß in den zertrampelten Schnee und stand auf.
    „Kommense, ich mach mal ein Weilchen bei Ihnen mit. Denn kann ich Sie auch gleich galant auffangen, wennse hier umkippen von der Schufterei, Frolleinchen.“
    Er lachte heiser; es klang nicht fröhlich. Sophie folgte ihm stumm zurück in den Turm. Der Dreck hing drinnen inzwischen in so dichten Schwaden, dass sie fast mit einem Arbeiter zusammengestoßen wären, der wie aus einem dicken, dunklen Nebel auf sie zukam. Fluchend drückte er sich an ihnen vorbei.
    Marek ging zu der Stahltür. Er streckte die Hand aus, um sie prüfend auf das Metall zu legen. Kurz über der glatten Oberfläche hielt er inne.
    „Kommense mal her, wennse noch Mut ham.“
    Er fasste mit der freien Hand ihren Arm. Führte ihn, bis ihre Hand auf einer Höhe mit seiner über der Stahltür schwebte. Sophie zuckte zurück.
    „Es ist warm!“
    Er ließ sie los und nickte düster.
    „Das isses wohl. Auf der anderen Seite geht’s höllisch zu, Frolleinchen. Nee, versuchense nich, es sich vorzustellen. Glaubense mir einfach. Kriegense weniger Albträume von.“
    Er bückte sich, packte eine Kiste. Es war die letzte aus einem Stapel, dahinter lag die Wölbung der Turmwand. Rechts und links ragten noch immer Kistentürme auf.
    „Los“, forderte er Sophie auf, „stapelnse mich mal ordentlich zu. Es nützt nichts, wenn wir hier alle einzeln …“
    Er brach ab, mitten im Satz, und seine dunklen Augen weiteten sich. Die Kiste, die er eben hochgehoben hatte, fiel krachend zu Boden.
    „Was“, fragte Sophie, aber er schien sie gar nicht zu hören, starrte auf die Stelle, wo eben noch die Kiste gestanden hatte – nein, auf den dämmrigen Hohlraum dahinter, der durch die runde Turmwand gebildet wurde. Unwillkürlich folgte Sophie seinem Blick. Es war kaum etwas zu erkennen. Aber der Turmboden wirkte an dieser Stelle seltsam uneben …
    „Frolleinchen“, sagte Marek leise neben ihr. „Oh Mann, Frolleinchen …“
    Es lag so viel Entsetzen in diesen wenigen Worten, dass Sophie die Finger in die Handflächen krallte.
    Marek holte tief Luft, hustete und brüllte unvermittelt:
    „Alle raus! Alle sofort raus hier! Kohlen hinter den Kisten! Alle raus!“
    Er packte sie, schob sie vor sich her zur Außentür, hörte dabei nicht auf: „Alle raus aus dem Turm, raus aus der Hütte! Kohlenstaub! Kohlenstaub im Turm!“
    Ein erschreckter Aufschrei ging durch die Arbeiter an den Kisten, pflanzte sich nach draußen hin fort, über den ganzen Vorplatz. Mit einem Schlag herrschte wilde Panik.

    Lieschen hielt das Holzreh im Arm. Sie hockte auf dem Kinderbett und wiegte sich vor und zurück. Was sollte sie tun? Was sollte sie nur tun? Sie hatte das ganze Haus abgesucht. Und niemanden gefunden. Aus Verzweiflung war sie schließlich wieder nach oben gegangen, ins Kinderzimmer, als könnten das kleine Fräulein und die Gnädige inzwischen wie durch Zauber wieder dort aufgetaucht sein. Aber das waren sie nicht. Sie waren fort.
    Sie konnten nicht fort sein! Lieschen sprang auf,

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