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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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bleibt deine Haltung? Weißt du nicht, wie weh du mir damit tust? Wie schwer das für mich ist?“
    Johanna versuchte, den Blick loszureißen. Es gelang ihr nicht.
    „Ich kann nichts dafür“, stammelte sie, „es tut mir leid!“
    „Es tut mir leid, es tut mir leid“, äffte die Mutter sie nach. „Ist das alles, was du sagen kannst?!“
    Mit einer heftigen Bewegung nahm sie den Apfel wieder auf, das Messer, schnitt tief in die rote Schale. Saft quoll hervor, das Fruchtfleisch zerriss. Die beiden Hälften fielen auseinander. Die Mutter warf das Messer hin.
    „Siehst du, ich trinke.“ Sie setzte das Fläschchen an, schluckte. Ein Schauer schien kurz durch ihren ganzen Körper zu laufen, aber es war sofort wieder vorbei, und Johanna war sich nicht sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte.
    „Ich trinke“, sagte die Mutter, „und dann esse ich meine Belohnung. Siehst du?“ Sie biss in den Apfel. Vor ihrem weißen Gesicht leuchtete das Rot grell auf.
    „War das so schlimm? Jetzt nimm dich zusammen. Komm!“
    Sie beugte sich vor. Hielt Johanna beides hin, den Apfel und das braune Fläschchen. Die trübe Flüssigkeit in seinem Inneren schwappte hin und her.
    „Komm!“
    Die Glasaugen beobachteten Johanna. Sie wagte es nicht, zurückzuweichen. Aber die Hand war ihr jetzt so nahe, die Hand mit den fürchterlichen Flecken! Übelkeit stieg in ihr auf. Sie ließ den Kopf hängen.
    „Johanna!“ Der Ton war so scharf, er schien etwas in der Luft zu zerreißen. „Trink jetzt! Tust du es nicht freiwillig, dann werde ich dich dazu zwingen!“
    Tust du es nicht freiwillig, dann werde ich dich dazu zwingen.
    „Nimm den Kopf hoch, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“
    Sieh mich an, ja, sieh mich an.
    Bin ich nicht – schön?!
    Johanna wimmerte auf und schlug die Hände vors Gesicht.
    „Nein, nein!“
    Aber der böse Traum war schon herangebraust, seine Schwingen schlugen über ihr zusammen. Kalte Luft wehte zwischen grauen Steinen, ein schwarzer Schleier flog in einer eisigen Kapelle beiseite, und darunter lag Grauen, das keine Worte kannte.
    Ein Gesicht. Die Reste von einem Gesicht. Tote weiße Haut, zerfressen, zerrissen. Die Nase eine Ruine. Die Wangen zerbröckelt. Und überall hockten sie, die bösartigen Spinnen. Tiefschwarze Flecken, überall. Überall. Ins Fleisch gegraben, festgekrallt. Groß wie Taler, aufgebläht. Vollgefressen. Aber noch lange nicht satt. Schwarze Flecken.
    Schwarze Flecken.
    Das Entsetzen in ihr verbrannte alle Benommenheit. Johanna wich den Händen aus, die nach ihr greifen wollten, krabbelte über das Bett; verfing sich im Laken, riss sich los, fiel auf den Boden, neben den weinroten Samtrock. Die Dielen waren hart unter ihren Knien. Aber sie blieb nicht liegen. Stoff raschelte, der schwere Rock kam in Bewegung, aber Johanna war schneller. Sie schoss in die Höhe, taumelte auf Beinen, die unter ihr nachgeben wollten, einen Schritt weg vom Bett, noch einen.
    „Hör auf, was tust du denn!“
    „Nein!“ Johanna kreischte, heiser, tonlos, mit wunder Kehle. „Nein, lass mich, geh weg, geh weg! Du bist nicht meine Mutter! Du bist sie. Du bist sie ! Du willst mich holen!“
    „Johanna! Hör sofort auf! Du bist wahnsinnig vom Fieber!“
    Der Rock schwang herum, versperrte den Weg zur Tür. Johanna wich an die Wand zurück.
    „Ich kenne dich, ich weiß, wer du bist, ich habe dich gesehen !“
    „Natürlich kennst du mich, du kennst mich seit deiner Geburt! Ich habe dich auf die Welt gebracht, ich habe dich großgezogen! Was erlaubst du dir, so mit mir zu reden! Komm sofort her, sofort!“
    Die Hände streckten sich nach ihr aus, die Finger gebogen, wie Krallen. Die Flecken! Die Flecken!
    „Lass mich! Hexe!“
    In allerhöchster Not stieß Johanna die Hände zurück, ohne zu wissen, woher sie die Kraft nahm, warf sich herum und riss die kleine Tür zur Mädchenstiege auf. Sprang die ersten schiefen Stufen herunter, während Tränen sie blendeten, und drehte sich nicht wieder um.

    Auf dem Bett richtete Sophie sich auf. Diesmal war sie sicher, etwas gehört zu haben. Ein deutliches, hastiges, beunruhigendes Geräusch. Da, war es da nicht schon wieder? Sie schnürte sich eilig die Schuhe und stand auf. Als sie die Zimmertür öffnete, hallte ein Poltern durch das ganze Haus – ein Poltern, das von der Haustür kam. Jemand hämmerte mit den Fäusten dagegen.

    Die Mädchenstiege endete vor der Hintertür. Schneewind rüttelte an der Milchglasscheibe in dem kleinen Vorbau. Die Welt

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