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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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beiden Polizisten waren schwerer verletzt und lagen mit Gehirnerschütterung am Straßenrand.
    Nun ging alles sehr schnell. Ich holte Geld heraus und bezahlte alle. Im nächsten Dorf wurde ein Auto organisiert, das Robert, Musa und mich weiterbringen sollte. Ich hatte nur zwei Gedanken im Kopf – ins Flugzeug zu kommen und nie wieder nach Tschetschenien zurückzukehren. Selbst als unser zweites Auto in ein Schlagloch fuhr und ich mir ein zweites Mal die Schulter auskugelte, blendete der Wunsch, nach Hause zu fahren, jeden Schmerz aus, ja, alles in der Welt, was nicht damit zusammenhing, nach Inguschetien und in Sicherheit zu gelangen.
    Irgendwie kamen wir an. Der Flughafen von Nasran wimmelte von Beamten der Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation, kurz FSB, Nachfolger des KGB, die unsere Akkreditierungen misstrauisch befingerten und uns danach ausfragten, wo wir gewesen waren. Robert und ich waren ein verdächtiges Paar. Wir trugen beide russische Militärmäntel und schwarze Strickmützen, unsere schwache Tarnung gegen auf Ausländer spezialisierte Entführer. Wir waren beide dreckig und rochen stark nach Rauch und Leichen. Mit übermenschlicher Willensanstrengung bewahrte ich die Ruhe, bestand darauf, dass wir Inguschetien nie verlassen und nie das verbotene Tschetschenien betreten hatten. Als wir in den Bus zum Flugzeug stiegen, kamen uns noch mehr Beamte des FSB nach und wollten Roberts unentwickelte Fotos sehen. Ich schwatzte und scherzte mit ihnen, und nach einigen qualvollen Minuten gingen sie wieder. Wir stiegen die Stufen der alten Tupolew 134 hinauf, voller Angst, sie könnten es sich anders überlegen und uns aus dem Flugzeug zurück in die Welt von Tschetschenien zerren.
    Erst später am Abend, im American Medical Center von Moskau, als mir ein Arzt aus Ohio mit einer kalten Stahlschere das stinkende russische Armee-T-Shirt vom Leib schnitt, brach ich in Tränen des Schmerzes und der Erleichterung aus. Xenia wartete vor der Notaufnahme auf mich. Nie zuvor hatte ich so tief empfunden, nach Hause gekommen zu sein.

    Krieg und Erinnerung treiben seltsame Spiele. Man sieht verstörende Dinge, die auf der Oberfläche des Bewusstseins dahinjagen wie ein Ball beim Flippern. Doch von Zeit zu Zeit bleibt eine Erinnerung oder ein Bild plötzlich in einem Loch hängen und dringt tief ins Herz vor. Für mich war es die Erinnerung an den toten Schwarzen in Komsomolskoje, die mich in meinen Träumen zu verfolgen begann. Meine Schulter heilte schnell, doch mein Verstand schien sich infiziert zu haben. In der Nähe von Xenias Datscha gingen wir plaudernd am Fluss entlang. Doch als wir an eine leere Wiese gelangten, wo die Stille des Frühlings nur durch das Knarzen der im Wind schwankenden Kiefern durchbrochen wurde, brach ich auf einer tiefen, nassen Schneeverwehung zusammen und weigerte mich weiterzugehen. »Lass mich einfach ein paar Minuten hier«, flüsterte ich, die Augen starr auf den grauweißen Himmel geheftet. »Lass mich einfach allein.«
    Ich kam zu der Überzeugung, dass der ruhelose Geist des toten Rebellen, den ich berührt hatte, in mich gedrungen war. Ich erlebte den Augenblick, als ich seine kalte Wange berührte, erneut und glaubte, dass irgendwie, wie eine elektrische Ladung, der Geist des Mannes in meinen lebendigen Körper gesprungen war. Ich träumte von den aufgewühlten Feldern von Komsomolskoje und malte mir aus, wie die erzürnten Seelen der Toten kraftlos über den Boden flatterten, wie verwundete Vögel.
    Es war Xenia, die mich da herauszog. Sie fuhr einen widerwilligen Robert und mich zu einer Kirche in der Nähe meiner Wohnung, wo wir beide Kerzen für die Toten anzündeten. Doch viel wichtiger war, dass sie mir dabei half, mir ein Heim zu schaffen, ein richtiges Familienheim, mein erstes, seit ich London sieben Jahre zuvor verlassen hatte. Ich zog aus meiner Junggesellenwohnung aus und mietete mir eine Datscha tief in den Moskauer Wäldern bei Swenigorod, ganz in der Nähe von Xenias Eltern in Nikolina Gora. Wir strichen die Zimmer in hellen Farben. Ich kaufte Kelims aus Dagestan und alte Möbel, und wir rissen den alten russischen Kachelofen im Wohnzimmer ab und verwendeten die schweren alten Kacheln für einen offenen Kamin anstelle des Ofens. Xenia ersetzte die Messingknäufe an dem Kaminrost, den wir gekauft hatten, durch zwei kleine Tonköpfe, die sie getöpfert hatte. Der eine war ein Porträt von mir, der andere eines von ihr, und unsere kleinen Tonbilder sahen

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