Wintermädchen
Glitzergirlies mit ihren gespaltenen Zungen und scharfen Krallen tuschelten. Insgeheim war ich heilfroh über meine Hühnerbrust und meine Unterhemden.
Die Jungs probierten wochenlang alle dreckigen Wörter und blöden Sprüche, die sie auf Lager hatten, an Cassie aus. Sie tat, als würde sie nichts hören, aber ich wusste es besser. Die Dinge eskalierten an einem Freitagmittag, als wir in der Cafeteria zum Mittagessen anstanden. Thatcher Greyson ließ den Rückenriemen von Cassies BH so laut schnalzen, dass alle es hörten. Sie fuhr herum, stieß ihn zu Boden, sprang auf ihn drauf und begann, ihn zu verprügeln. Als sie endlich irgendjemand wegzog, hatte er ein blaues Auge und eine blutige Nase.
Thatcher musste zur Schulkrankenschwester. Und Cassie schickte man ins Büro zu M r Parrish, weil er der Direktor und zugleich ihr Vater war. Er brüllte sie dermaßen laut an, dass man es draußen im Flur hörte. Danach schickte er sie und Thatcher für den Rest des Tages nach Hause und wir anderen verbrachten den Nachmittag damit, Aufsätze über Toleranz und gute Umgangsformen zu schreiben. Weshalb die Glitzergirlies wiederum stinksauer waren und sagten, Cassie sei an allem schuld.
Am nächsten Montag verkündeten die Mädchen, Cassie sei eine Lesbe, und stießen sie aus ihrer Gemeinschaft aus. Ich wusste nicht, was eine Lesbe ist, aber es hörte sich an wie etwas Schlimmes. Ich kaute auf dem Radiergummi meines Bleistifts herum und sprach den ganzen Tag kein Wort mit Cassie. Am Dienstag saß sie beim Mittagessen ganz allein. In der Pause spielte sie allein. Und statt den Bus zu nehmen, wurde sie von ihrer Mutter abgeholt.
Am Mittwoch flüsterten die Jungs immer wieder »Titten, Möpse, Euter, Glocken«, wenn der Lehrer gerade nicht aufpasste. Thatcher zeichnete ein Bild von Cassie mit melonengroßen Brüsten und reichte es in der Klasse herum. Die Glitzergirlies kicherten und wickelten sich Kaugummis um die Finger.
In der Hackordnung der fünften Klasse stand ich ziemlich weit oben, weil meine Eltern reich waren und mein Vater den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika getroffen hatte. In der komplizierten Mathematik der Unterstufe war ich immerhin eine ganze Zahl, nicht irgendeine Bruchzahl.
Cassie und ich hatten einen heiligen Eid mit Giftbeeren und Blut geschworen, also hatte ich keine Wahl. Ich musste sie retten.
In der Mittagspause setzte ich mich zu Cassie ans Ende des Tisches, wo die Loser saßen. Ich schenkte ihr all meine Pommes und redete laut darüber, dass wir beide zusammen mit ihrer Mutter nach Boston fahren würden, um ein Museum zu besichtigen. Die anderen Mädchen glotzten uns an. Ihre Zungen witschten über ihre Zahnspangen, leckten am Lipgloss und prüften die Windrichtung.
In der Pause ging ich zu Thatcher. Ich, ein dürres, elfenhaftes Mädchen von der Größe einer Zweitklässlerin, legte mich mit dem zukünftigen Footballstar der Schulmannschaft an, einem Angriffsspieler.
»Na los, schlag mich«, sagte ich.
»Du? Forderst mich heraus?« Er musste so lachen, dass es ihm die Sprache verschlug.
Ich schubste ihn. »Und ob! Wenn du dich nicht traust, bist du ein Weichei.« Ich schubste ihn noch einmal, kräftiger. »Und wenn du dich traust, bist du ein noch viel größeres Weichei, weil es nämlich schlimmer ist, Schläge einzustecken als auszuteilen.«
Keine Ahnung, wie sich diese Worte in meinen Mund geschlichen hatten.
Ein Raunen ging durch die Menge, und um uns herum bildete sich ein Kreis. Thatcher blickte sich nach einem Lehrer um, der ihm aus der Patsche helfen konnte. Ich schloss die Augen und hielt mir die Daumen.
»Na los!«, sagte ich.
Er schlug so hart zu, dass meine Lippe aufplatzte und der wackelige Backenzahn, an dem ich schon mit der Zunge herumgespielt hatte, herausbrach. Ich konnte ihm den blutigen Zahn gerade noch ins Gesicht spucken, dann fiel ich in Ohnmacht.
Die Glitzergirlies wechselten wieder mal die Seiten. Ich hatte es Thatcher gezeigt – Frauenpower, Mädchen an die Macht! Sie flochten mir Armbänder aus Stickgarn und Perlen, aber ich wollte sie nicht annehmen, solange sie Cassie nicht auch welche machten. Sie nahmen Cassie wieder in ihren Club auf, weil Thatcher nämlich echt ein fieser Arsch war und an allem selber schuld.
Nach dieser Sache erzählten Cassie und ich überall herum, wir wären Zwillinge.
… ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei n …
Der Körper von Cassandra Jane Parrish schläft in einem
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