Wintermädchen
große Sorgen um dich.«
»Nein.«
Jennifers Spiegelbild blickt mich stirnrunzelnd an. Sie versucht nach wie vor, den Weg durch das Minenfeld zu finden, das sich zwischen ihrem chaotischen Stiefmutterland und dem sagenumwobenen Reich von Ehefrau-Nummer-eins befindet. Sie kriegt ein Fleißkärtchen für ihre Mühe. Jennifer holt tief Luft. »Ich halte es für eine gute Idee.«
»Ich nicht.«
»Komm schon, Lia, du solltes t …«
»Es steht dir nicht zu, so was zu sagen.« Dampfschwaden steigen auf. Ich möchte mich am liebsten ausziehen, um mich zu kochen, aber wenn sie mich nackt sieht, wird sie ausrasten, und wenn ich mit Bademantel unter die Dusche steige, rastet sie noch mehr aus. »Dr . Parker sagt, ich brauche mir von niemandem ein Du-solltest gefallen zu lassen.«
»Entschuldige.« Sie reibt eine klare Stelle in den beschlagenen Spiegel. »Ich versuche nur, dir zu helfen.«
»Ich weiß.«
Als sie meinen Vater geheiratet hat, war ich eine Besucherin, die einmal im Monat auftauchte, unaufgefordert die Küche sauber machte und kostenlos den Babysitter spielte. Ich wette, sie bereut, keine Rücktrittsklausel in den Ehevertrag geschrieben zu haben.
»Was hat denn Dad zu Mom gesagt?«, frage ich.
»Dass er mit dir reden wird.«
Das Wasser rauscht herab, neunzehn Liter pro Minute verschwinden im Abfluss. Jennifer verblasst hinter einer Dampfwolke.
»Es ist doch nur eine Nacht.« Ihre Stimme klingt verklebt, als hätte sie Lippenstift auf der Zunge. »Fahr am Samstag zum Abendessen hin, und nach dem Frühstück kommst du wieder nach Hause.«
Ich öffne den Mund, um sie zu fragen, ob sie mit mir zur Beerdigung geht und morgen zur Totenwache, ob sie meint, dass ich Cassies Eltern anrufen soll, oder ob das alles nur noch schlimmer macht. Ich öffne den Mund, aber Dampf quillt hinein und brennt die Wörter weg.
»Hast du was gesagt?«, fragt sie.
»Gehst du heute noch einkaufen?«
»Was?«
»Ob du heute noch einkaufen gehst? Ich hab keine Tampons mehr!« Glatt gelogen, geniale Ablenkung.
»Klar. Ich bring welche mit. Und du rufst Chloe an?«
»Ich rufe sie heute Nachmittag an. Könntest du mich jetzt vielleicht bitt e …« Ich stehe auf und greife nach meinem Bademantelgürtel.
Sie geht hinaus in den Flur und lässt die Tür halb offen. »Danke, Schatz. Ich sag David Bescheid.«
Ich starre in den Dampf, bis ich weiß, dass sie die Treppe hinuntergegangen ist.
»Ich bin nicht dein Schatz.«
013.00
Ich stelle die Dusche ab. Überall hängen Dampfwolken. Tränen kullern am Spiegel, an den Fliesen und Fenstern nach unten. Ich warte auf das magische Geräusch und als sich das Garagentor endlich schließt, beginne ich zu zählen, während ihr Wagen die Auffahrt hinunterrollt und losfährt, Richtung Grundschule.
… Als sie die Dosierung der grünen und orangefarbenen Pillen herabsetzten, weil ich so ein supersuperbraves Mädchen war, lichtete sich der Nebel in meinem Kopf allmählich, und mein Hirn schaltete wieder auf Betrieb. Es dauerte eine Weile, sich an das Leben im Jenniferland zu gewöhnen. Zum einen waren ständig Leute da. Jennifer hatte Freunde. Dad lud Kollegen zum Grillen ein. Und Emma überredete die beiden, dass ich auf sie aufpassen durfte, außer an den Tagen, an denen ich Ferienkurse hatte.
Mein Vater (»Fünfzig Kilo, Kleines – du siehst toll aus!«) kaufte mir ein neues Auto (»Drei Jahre alt, 12 8 74 4 Kilometer, aber neue Reifen und sehr sicher.«), damit ich Emma ins Schwimmbad und zum Fußball und zu ihren Freunden fahren konnte. Ich hatte sonst ja auch nichts vor. Cassie hatte mich verstoßen. Meine anderen Freundschaften waren eingeschlafen, ohne dass ich es so richtig mitbekommen hatte. Dad versprach mir einen Haufen gemeinsamer Ausflüge, damit ich mich wieder besser fühlte. Wir würden uns den Sonnenuntergang am Meer anschauen, uns Sinfoniekonzerte anhören, nach Kanada rauffahren, dort einen Kaffee trinken und uns dann gleich wieder auf den Heimweg machen. Es klang alles so überzeugend, dass ich ihm eine ganze Weile glaubte. Aber dann weigerte sich sein Verleger, den Abgabetermin für sein Manuskript erneut zu verschieben, und er musste ein Seminar im Sommersemester übernehmen, und wir fuhren nirgendwohin.
Mein Auto fuhr mich zu einem Sanitätsfachhandel, wo ich mir eine supergenaue Digitalwaage kaufte. Eine, an der sich nichts drehen ließ, nicht so eine wie die Blubber-O-Meter 3000 …
Ich hole die richtige Waage aus ihrem Versteck im Wandschrank und nehme sie mit
Weitere Kostenlose Bücher