Wintermädchen
kalten, silbernen Kasten. Am Samstag wird man ein Loch in die Erde buddeln und sie einpflanzen.
Und was ist mit dem Rest von ihr, der richtigen Cassie?
Bestimmt taucht sie hier auf.
011.00
Emma geht zu Bett und Jennifer geht zu Bett und Dad geht zu Bett. Auf der anderen Seite der Stadt bleibt meine Mutter noch viel zu lange auf, aber dann geht sie schließlich auch zu Bett.
Ich kann nicht schlafen. Glühende Blitze zischen mir durch den Schädel, ein Kurzschluss in den Leitungen meines Kopfes. Erst ist mir kalt, dann heiß, dann kann ich meine Finger und Zehen nicht mehr spüren. Da steht jemand draußen vor meiner Tür, das spüre ich. Abe r … nein. Alle schlafen. Alle sind verzaubert, eingehüllt in einen Traum.
Der Mond tropft durch mein Fenster.
Ich warte.
Spinnen schlüpfen in meinem Bauchnabel und kriechen hinaus ins Freie, haarige kleine Teerperlen mit Ballerinafüßchen. Sie wimmeln umher und spinnen einen Seidenschleier, einhunderttausend ineinander verwobene Spinnengedanken, bis sie mich in ein weiches, kuscheliges Leichentuch gewickelt haben.
Ich atme ein. Das Netz presst sich an meine geöffneten Lippen. Es schmeckt nach Staub, wie alte Vorhänge.
Ein Hauch von Ingwer, Gewürznelken und karamellisiertem Zucker weht über mein Bett, der Duft ihres Duschgels, Shampoos und Parfums. Sie kommt. Jeden Moment ist es so weit.
Ich atme aus, und dann geht es los.
Dornige Ranken kommen über den Boden gekrochen, knisternd wie Feuer. Schwarze Rosen erblühen im Mondlicht, tot geboren und zerbrechlich. Das Netz über meinem Gesicht hält meine Augen offen und zwingt mich hinzusehen, als Cassie aus den Schatten hervortritt, Dornenranken winden sich um ihre Beine und ihren Körper hinauf, durchziehen ihr Haar. Gerade steht sie noch an der Tür, im nächsten Moment blickt sie bereits auf mich herunter. Die Temperatur im Zimmer ist um zwanzig Grad gesunken. Ihre Stimme ist in meinem Kopf.
»Lia«, sagt sie.
Ich kriege keinen Ton heraus. Spinnen krabbeln mir übers Gesicht und springen auf Cassies Arme hinüber. Hin und her fliegen sie und weben uns zusammen.
»Komm mit«, sagt sie. »Bitte.«
Das Netz lässt uns erstarren, und wir blicken einander an, während der Mond über den Himmel schlittert und die Sterne einschlafen.
012.00
»Aufwachen, Lia!« Emma rüttelt mich an der Schulter.
Ich stöhne und vergrabe mich tiefer in meinem warmen Kokon.
»Wach auf!« Sie macht das Licht an. »Du kommst zu spät.«
Ich öffne die Augen und halte schützend eine Hand ins grelle Licht. Ich stecke noch immer in den Kleidern von gestern. Draußen ist es dunkel. »Wie viel Uhr ist es?«
»Oh, Mann!«, sagt Emma. »Nach halb sieben.«
Mein Zimmer riecht nach Schmutzwäsche und alten Kerzen, nicht nach Gewürzen oder Karamell. Ich vergrabe mein Gesicht wieder im Kissen. »Noch fünf Minuten.«
»Du musst jetzt aufstehen!« Sie zieht mir die Steppdecke weg. »Hat Mom gesagt.«
»He, es ist kalt!«
»Brüll nicht rum, Mom hat Migräne. Ich hab ja versucht, dich nett aufzuwecken, aber du hast dich nicht gerührt.«
Ich schwinge die Beine aus dem Bett und setze mich auf. Keine Spinnweben in Sicht, keine Rosenblätter auf dem Teppich. Cassie liegt mit aufgeschlitztem Bauch im Leichenschauhaus und läuft aus wie ein frisch gefangener Fisch. Es war alles nur Einbildung.
Ich zittere, ziehe die Steppdecke wieder hoch und lege sie mir um die Schultern. »Wo ist mein Vater?«
»Wir haben Dienstag, Dummi. Squashtag.«
Mist. Dienstag.
»Wo ist Jennifer?«
»Föhnt sich die Haare. Wo willst du hin?«
Dienstag.
Ich rase nach unten in die Wäschekammer, so weit weg von Jennifers Ohren wie nur möglich. Drehe den Wasserhahn auf, beuge mich übers Becken und saufe, bis mein Bauch ein großer Wasserballon ist. Die Flut trägt mich zurück in Richtung Küche, schwer beladen, und die Wellen gluckern.
Als Jennifer mit trockenen Haaren und verwackeltem Lidstrich in die Küche kommt, trinke ich meine erste Tasse Kaffee. Schwarz. Vor mir steht Dads schmutziger Teller, damit es so aussieht, als hätte ich Marmeladentoast gegessen.
»Migräne?«, frage ich.
Sie nickt einmal, zuckt zusammen und stellt eine Tasse Wasser in die Mikrowelle.
Meine kleine Nichtschwester schiebt mir über den Tisch ein Schuhkarton-Diorama zu. »Das ist ein Kolosseum aus Griechenland«, erklärt sie mir. »Wo man Leute folterte und sie den Tigern zum Fraß vorwarf.«
»Klingt nach ’nem ganz normalen Schultag«, sage ich.
»Sehr witzig«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher