Wintermädchen
Jennifer. »Und es ist das Kolosseum in Rom, nicht in Griechenland. Jetzt hör auf, daran rumzufummeln, Emma. Der Kleber ist noch nicht trocken.« Die Mikrowelle piepst. Sie holt die Tasse heraus, lässt einen Teebeutel, der nach Zitrone riecht, hineinfallen. Dann wirft sie einen Blick auf die Uhr und sagt: »Also komm, Lia. Gehen wir hoch.«
***
Als man mich vor sechs Monaten zum zweiten Mal aus dem Gefängnis New Seasons der Klinik entließ, ließ ich mich von meiner Mutter Dr . Marrigan scheiden und zog ins Jenniferland.
Nachdem sich Dad vom ersten Schock erholt hatte, begann er sich mit dem Gedanken anzufreunden. Es wäre ein Neuanfang, meinte er. Mit einem strukturierten Tagesablauf und jemandem, der kochen kann. Und den ganzen Sommer über schlurfte ich jeden Morgen wie eine brave Tochter in die Küche und setzte mich mit meinem Vater an den Frühstückstisch. (Genau so, wie es in den Entlassungspapieren der Klinik hieß: »Die gemeinsamen Mahlzeiten sollten in freundlicher und entspannter Atmosphäre eingenommen werden.«) Er hielt mir dann immer Vorträge über seine neuesten Erkenntnisse über das langweilige Leben irgendeines toten Typ, während ich winzige Omelettstückchen auf meine Gabel schob und an einem Zimtbagel mit Butter herumknabberte.
Die Ärzte empfahlen Dad, eine Blubber-O-Meter 3000 zu kaufen, eine Badezimmerwaage mit einer riesigen, gut lesbaren Anzeige. Jennifer musste die Drecksarbeit übernehmen, mich in meinem zerschlissenen gelben Bademantel wiegen und dafür sorgen, dass ich fett blieb. In den ersten paar Monaten ermittelte sie meine Sünden jeden Morgen und besprach sich wegen der Ergebnisse einmal pro Woche mit meinem Arzt. Die scheußlichen Zahlen brachten mich zum Heulen.
Aus dem täglichen Wiegen wurde ein Jeden-zweiten-Tag-Wiegen und daraus ein Jeden-Dienstag-Wiegen, weil eigentlich niemand von uns Lust dazu hatte.
In meinem Zimmer schlüpfe ich in den gelben Bademantel und vergewissere mich, dass die 25-Cent-Stücke, die ich in die Taschen eingenäht habe, den Stoff nicht nach unten ziehen. Als ich ins Badezimmer komme, steht Jennifer gerade vor dem Spiegel und zieht ihren Eyeliner nach.
48 geschummelte Kilo.
Sie schreibt die Zahl in ein kleines grünes Notizbuch, das seinen Platz im Schrank gleich neben der antiseptischen Wundsalbe hat, dann blättert sie durch vierundzwanzig Wochen demütigender Gewichtsprotokolle. »Das ist ein Viertelpfund weniger.«
»Aber weit über der problematischen Grenze.«
Sie räuspert sich, und das Notizbuch landet wieder im Schrank. Der Umschlag beginnt sich bereits aus der Ringspirale zu lösen.
Ich steige von der Waage und wechsele das Thema. »Kann ich nach der Schule mit Emma Eisessen gehen?«
Der Stiefmuttermund öffnet sich, aber es kommt kein Ton heraus.
Emma ist neun. Emma ist rund. Rund, nicht stämmig, nicht schwer, nicht fett. Sie ist kräftig gebaut – wie ihr Vater, sagt si e –, und das Runde steht ihr perfekt. Emma könnte ein Model sein; das haben wir schon eine Million Mal bei Schulkonzerten und Fußballturnieren gehört. Sie ist das moderne All American Girl, ein Mädchen aus Fleisch und Blut mit schokoladigen M&Ms-Augen, wippendem Haar und einer sinnlichen Speckrolle am Bauch.
Jennifer hält Emma für fett mollig, aber sie traut sich nicht, es auszusprechen.
»Eine Kugel«, verspreche ich. »Im Becher.«
»Heute nicht.« Der Lippenstift blutet ihr bis in die Mundwinkel hinein. Sie zieht ein Papiertuch aus der Schachtel und beugt sich näher an den Spiegel, um den Fehler zu korrigieren. Es ist ein antiker Spiegel mit leichten Wellen im Glas. Manchmal macht er aus dir die eleganteste Prinzessin in Zeit und Raum. Manchmal aber auch ein Schwein.
Ich ziehe den Duschvorhang zurück und drehe das Wasser auf. Jennifer kleckst, kleckst, kleckst immer noch an sich herum. »Chloe hat angerufen«, sagt sie. »Schon wieder.«
»Hier?«
»Nein, in Davids Büro.«
Ich stelle das Wasser heißer. Ich mag es nicht, wenn sie den Namen meiner Mutter in den Mund nimmt.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Dass Mom Dad angerufen hat.«
»Du hast mir gestern versprochen, dich bei ihr zu melden, Lia.«
Ich sitze am Badewannenrand und prüfe mit den Fingern die Temperatur. »Tut mir leid, hab ich vergessen.«
»Nicht so schlimm. Sie möchte, dass du dieses Wochenende bei ihr übernachtest. Sie meint, es sei für euch beide an der Zeit, es noch mal miteinander zu versuchen, besonders jetzt nach Cassies Tod. Sie macht sich
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