Wintermädchen
lächelt. »Danke, Lia. Das ist doch schon mal ein Anfang.«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen und ich halte es in diesem Raum hier nicht mehr aus.
Ich stehe auf. »Kann ich deinen PC benutzen? Ich muss Hausaufgaben machen.«
»Natürlich. Das Passwort laute t …«
»Lia, ich weiß.«
Ich verbringe fünfzehn Minuten damit, Cassies Namen zu googeln und in den Lokalnachrichten nachzusehen, ob neue Geschichten über sie im Umlauf sind. Keine.
Meine Finger greifen durch den Bildschirm und wühlen im Müll herum, bis sie endlich den kreischenden Chor zu fassen kriegen. Den Chor der hungrigen Mädchen, die endlose Choräle singen, während ihre blutenden Kehlen langsam Rost ansetzen und sich mit Einsamkeit füllen. Ich könnte mich für den Rest meines Lebens durch diese Lieder scrollen, ohne einen Anfang zu finden.
Ich brauche irgendeine Eingebung.
Ich brauche eine SMS-Freundin fürs Fasten morgen.
Bitte helft mir!!!
Viel Glück heute, ihr Hübschen! Ihr seid stark und werdet heute einfach unglaublich sein.
Mann, mir geht’s beschisse n … Hab heute bloß ’ne Schüssel Cornflakes gegessen, das ist gut.
Wenn ich was esse, muss ich es ganz schnell wieder loswerden. Bin aber zu müde, um schnell zu sein. Kennt das jemand?
Ständig dieses Gesumm winziger Flügel in den Blogs und Chatrooms. Fliegen, die sich von innen gegen den Bildschirm werfen und gar nicht wissen, weshalb sie eigentlich zu fliehen versuchen. Es wird sich nie ändern.
Ich gebe die Adresse von Cassies Geheimblog ein. Sie hat letzten Sommer aufgehört zu schreiben, kurz bevor sie durchdrehte, hat aber ihre Posts nicht gelöscht. Ob sie wohl ebenso oft wie ich draufgestarrt hat?
Das Internet durchleuchtet mich, als wäre ich eine Papiertüte, schwenkt einen Zauberstab, und Klick! erscheinen die Bilder von zwei Mädchen.
Klick! Wie sie vom Baumhaus herunterwinken, die Lippen verschmiert von Eis am Stiel mit Traubengeschmack.
Klick! Sie tragen genau die gleichen Badeanzüge.
Klick! Unsere Weihnachtsferien in der achten Klasse in Killington, jenes Weihnachten, als Dad in die Flitterwochen fuhr. Das Weihnachten, als Mom im ganzen Haus Parkett verlegen ließ. Das Weihnachten, an dem ich mich weigerte, mit ihr nach Costa Rica zu fahren, um dort ein neues Krankenhaus zu besichtigen. Das Weihnachten, als sich die Familie Parrish meiner erbarmte, meinen Koffer ins Auto lud, um mich mit in den Skiurlaub nach Vermont zu nehmen. Ich packte meinen Rucksack voll mit Tamora-Pierce-Büchern, einem kleinen Messer und geklautem Wodka aus Moms Hausbar.
Wir blieben eine gute Woche. Cassie und ich waren vierzehn, aber im Grunde so gut wie fünfundzwanzig, total erwachsen mit eigenen Skilift-Pässen und praktisch eigenem Apartment, einer Mini-Suite gleich neben der Ferienwohnung ihrer Eltern. Wir flirteten mit den Typen, die die Lifts bedienten, und taten so, als würden sie zurückflirten. Wir konnten uns ewig nicht entscheiden, welchen Badeanzug wir im Whirlpool tragen sollten, und notierten von jedem Bissen die Kalorien.
Klick! Wie wir uns selbst fotografieren, mit nach innen gesaugten Wangen.
Klick! Wie wir die Größe unserer Hintern vergleichen.
Zum Silvesterabend spendierten uns Cassies Eltern eine Flasche alkoholfreien Sekt. Nachdem sie zur Party in die Skihütte gegangen waren (»Lasst keinen herein, Mädchen, wir vertrauen euch«), mixte Cassie ihn mit meinem Wodka. Wir aßen selbst gebackene Pfeffernüsse und tranken, bis unsere Köpfe zur Tür hinaus und die Treppe hinunter und in die eisige Nacht hinaussegelten.
Unter der Neumondsichel taumelten wir über den Kaninchenhügel, der hinter der Ferienwohnung lag, ließen uns auf den Rücken fallen, machten Schnee-Engel und versuchten, unseren dampfenden Atem zu Ringen zu formen. Cassie ließ sich auf alle viere nieder und heulte wie ein Wolf mit glitzernden Augen den Mond an. Mein Wolf gelang mir nicht. Ich konnte nicht aufhören zu kichern. Cassie dagegen heulte immer lauter und wilder, um die echten Wölfe aus den Wäldern anzulocken oder wenigstens ein paar Skiliftjungs, bis irgendjemand ein Fenster öffnete und sagte, sie solle die Klappe halten. Wir brachen vor Lachen zusammen und kringelten uns im Schnee.
Über unseren Köpfen explodierte das Feuerwerk. Kirchenglocken läuteten. Fremde brüllten wie aus einem Mund, weil das neue Jahr begonnen hatte und jeder die Chance auf einen Neuanfang erhielt.
»Wir müssen Vorsätze fassen«, sagte ich. »Ich beschließe, das ganze Jahr über jeden
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