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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Tag ein Buch zu lesen.«
    »Das ist doof«, sagte Cassie. »Das machst du doch eh schon.«
    »Und dein Vorsatz?«
    Sie überlegte. »Vorsätze sind Schwachsinn. Ich schwöre lieber einen Eid.«
    »Ich schwöre, dass ich wieder reingehe«, sagte ich. »Weil mir nämlich gerade der Arsch abfriert.«
    »Nein, hör zu.« Sie setzte sich auf und packte mich an den Armen. »Es ist Mitternacht, eine magische Zeit. Alles, was wir heute Nacht schwören, wird in Erfüllung gehen.«
    Es war die Cassie aus der dritten, vierten, fünften Klasse, die da sprach. Das Mädchen, das stark genug war, um Jungs zu verprügeln, und verrückt genug, um in die Rosen zu kotzen. Ich wäre mit ihr durchs Feuer gegangen.
    Wir knieten uns hin.
    »Ich schwöre, dass ich immer genau das tun werde, was ich möchte.« Sie erhob ihre Hände zum Mond. »Ich werde glücklich und reich und schlank und scharf. So scharf, dass die Jungs mich anbetteln.«
    Wieder kicherte ich.
    »Hör auf!«, zischte sie mir zu. »Du bist dran. Und denk nach, bevor du den Mund aufmachst.«
    Ich würde nie beliebt sein. Wollte ich auch gar nicht; ich war gerne schüchtern. Ich würde nie die Klügste, Schärfste, Glücklichste sein. In der achten Klasse lernt man so langsam seine Grenzen kennen. Aber eins gab es, worin ich richtig gut war.
    Ich holte das Messer aus meiner Hosentasche und ritzte mir in die Handfläche, nur ganz leicht. »Ich schwöre, dass ich das schlankste Mädchen der Schule sein werde, schlanker als du.«
    Cassie riss die Augen auf, als sich das Blut in meiner Handfläche sammelte. Sie griff nach dem Messer und ratschte über ihre Hand. »Ich wette, dass ich schlanker sein werde als du.«
    »Nein, lass uns nicht wetten. Lass uns zusammen am schlanksten sein.«
    »Okay, aber ich werd schlanker sein.«
    Wir rieben unsere Handflächen aneinander und vermischten unser Blut, weil es verboten und gefährlich war. Über uns wirbelten die Sterne durcheinander und das Feuerwerk flackerte. Der Mond war Zeuge, als die Blutstropfen fielen, leichtsinnig ausgesäte Samen, die im Schnee zischten.
    Klick! Erster Tag der neunten Klasse. Schlimme Frisuren.
    Klick! Bilder vom Abschlussball der zehnten Klasse, mit Schülern aus der zwölften, die wir nicht ausstehen konnten.
    Klick! Letztes Jahr, Theaterparty. Cassie ist betrunkener, als alle ahnen, ich schaue aus einiger Entfernung zu.
    Meine Mutter klopft vorsichtig an und öffnet die Tür. »Es ist schon ganz schön spät. Ich hab dein Bett frisch bezogen, falls du heute hier übernachten willst.«
    Mein Blick ist starr auf den Bildschirm gerichtet, meine Finger schreien danach, die Tasten zu drücken, um meine Vergangenheit zu löschen. Mom kann nicht sehen, was ich tue. Sie geht zum Fenster hinüber und zieht die Vorhänge auf.
    »Oh nein«, sagt sie. »Das ist nicht gut.«
    Ich fahre den Rechner herunter und geselle mich zu ihr. Auf der anderen Straßenseite sitzt Mr s Parrish auf der Bordsteinkante, schaukelt vor und zurück, die Arme um ihren Körper geschlungen, in einem dünnen Morgenmantel und mit abgewetzten Pantoffeln an den Füßen.
    »Ich kümmere mich um sie«, sagt Mom. »Und du solltest schlafen gehen.«
    »Ich muss zurück zu Dad«, sage ich. »Zwei Übernachtungen hatte ich nicht eingeplant. Meine Schulsachen sind bei ihm drüben.«
    Mom verlässt das Haus, während ich packe. Ich räume die Küche auf und stelle den Geschirrspüler an. Ehe ich die Flucht antrete, schlüpft eins von Oma Marrigans guten Silbermessern mit Elfenbeingriff in meine Handtasche.
    Mein Wagen hält bis zu Jennifers Einfahrt durch.
    039.00
    Das Fahren mit rot blinkenden Warnleuchten am Armaturenbrett hat meinen Motor erledigt. Kaputte Motoren sind eine teure, schlimme Daddy-ist-verdammt-sauer-Sache. Ich bin gedankenlos/verantwortungslos/manchmal einfach total dämlich. Während er mich anbrüllt, stülpt sich über seiner linken Augenbraue eine Vene vor und beginnt zu zucken. Sein Donnergrollen lässt Emma in ihr Zimmer flüchten, und ihre Katzen Kora und Pluto rennen gleich hinterher. Jennifer versucht zu vermitteln, indem sie ihn fragt, ob er nicht einen Spaziergang mit ihr machen will, aber er scheucht sie weg und wütet noch eine halbe Stunde weiter.
    Am liebsten würde ich ihm sagen, dass es doch bloß ein Auto ist, aber ich bin in tausend Einzelteilen über die ganze Stadt verstreut: auf dem Friedhof, in der Schule, in Cassies Zimmer, im Motel, vor Moms Spüle. Es kostet zu viel Kraft, sie alle wieder einzusammeln, also

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