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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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freute.« Ich warte darauf, dass sie all die Fehler aufzählt, die Professor Overbrook hat, den Katalog seiner Mängel, miesen Gepflogenheiten und nervigen Gesten, aber sie tut es nicht. Auch sie starrt auf meine Füße und wirkt dabei verloren.
    Ich lehne mich zurück. »Können wir fernsehen?«
    »Gute Idee.« Sie greift nach der Fernbedienung und richtet sie auf das Gerät.
    Den ganzen Vormittag über gucken wir Naturdokus. Besser als reden, aber nicht so gut, wie fluchtartig das Haus zu verlassen.
    Zu meinem Mittagessen aus Blattsalat und Gurken sagt sie nichts. Und ich sage nichts, als sie fast den ganzen Nachmittag vor ihrem Computer verbringt.
    Den ganzen Tag über köchelt der Streit weiter vor sich hin, Blasen steigen auf und zerplatzen, die Zutaten sinken ab und gelangen wieder an die Oberfläche. Aber bis zum Sonnenuntergang kocht nichts mehr über.
    Mom entscheidet sich für Sushi als Abendessen. Ich entscheide, nicht mitzukommen, um es zu holen. Sie entscheidet, dass am Esszimmertisch gegessen wird, denn wenn es formal zugeht, hat sie alles unter Kontrolle. Ich entscheide, beim Essen zu lesen. Sie entscheidet, dass ich vier Stück Sushi, vier Stück Sashimi und eine Schale Udonnudeln mit Shrimps im Teigmantel essen soll. Ich entscheide, keinen Hunger zu haben, und trinke grünen Tee aus einer henkellosen Tasse.
    Sie drängt mir das Essen nicht auf, daher weiß ich, dass etwas im Busch ist. Erst als ihr Teller leer ist, lässt sie die Bombe platzen: »Ich möchte, dass du wieder hier einziehst.«
    »Nein.«
    »Du hast bei deinem Vater eine Zeit lang gute Fortschritte gemacht«, fährt sie fort, »aber das scheint nun vorbei zu sein.«
    Unter meinem Stuhl raschelt der Boden und zwischen den gebohnerten Dielen schlängeln sich Ranken hervor. Ich will nicht mit ihr über dieses Thema reden und auch nichts davon hören.
    Sie setzt ihre Rede fort, an der sie tagelang gefeilt haben muss. »Ich erwarte ja nicht, wieder bei deinen Therapiestunden dabei sein zu dürfen. Was dort geschieht, ist eine Sache zwischen dir und Dr . Parker. Aber im Moment wäre das hier die gesündere Umgebung für dich, denke ich.«
    Ich lasse die Ranken an meinen Stuhlbeinen hinaufklettern und eine dichte Spiralhecke um mich weben, die bis zur Decke hinaufreicht. Durch die Dornen hindurch kann ich Mom fast nicht erkennen. Die meisten ihrer Worte werden von der Hecke abgewehrt, sodass ich in eine Art Halbschlaf fallen kann. Eine eindringliche Frage katapultiert mich in den Wachzustand zurück.
    »Wie wäre es nächstes Wochenende?«
    »Was?«
    »Dass wir deine Sachen wieder herbringen. Nächstes Wochenende. Da hab ich mir bereits freigenommen.«
    »Ich ziehe nicht wieder ein.«
    Ich brauche irgendeine Ablenkung. Zwänge meine Hand durch die Hecke, nehme mir ein Stück Sushi, stecke es mir in den Mund und schlucke es, ohne etwas zu schmecken, hinunter. Mein einziger Ausweg besteht darin, Normalität vorzutäuschen.
    »Wie wär’s mit jeder zweiten Woche?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich nicht will. Es ist nicht nötig. Siehst du, ich esse. Ich bin gesund. Ich bin normal. Wenn es überhaupt einen Effekt hat, hier wieder einzuziehen, dann den, dass alles wieder von vorn losgeht. Hier habe ich gewohnt, als es begann. Cassies Haus steht direkt gegenüber.«
    Mein Hirn ( NEIN !) und mein Magen ( NEIN !) brüllen mich an ( NEIN ! NEIN ! NEIN !), aber ich zwinge einen Löffel Nudeln an meinen Zähnen vorbei und schlucke.
    »Und wenn wir es auf einen kurzen Versuch ankommen ließen – eine Woche lang?«, schlägt sie vor. »Du könntest über die Weihnachtsferien kommen und im Januar zu deinem Vater zurückziehen, wenn die Schule wieder losgeht.«
    »Die ganzen Ferien über?«
    Ihre Maske zerbröckelt, ihre Schultern sacken nach unten. »Hasst du mich so sehr?«, fragt sie mit rauer Stimme. »So sehr, dass du nicht mal eine Ferienwoche hier verbringen kannst?«
    Die Nudeln bleiben mir auf halbem Weg im Halse stecken. »Wir halten es doch kaum eine Stunde lang im selben Zimmer aus, Mom. Wie sollen wir da eine ganze Woche schaffen?«
    »Ich könnte dir Bridge beibringen«, sagt sie.
    »Ich möchte lieber Pokern lernen.«
    »Ich bitte einen meiner Assistenzärzte, es mir beizubringen. Kommst du dann über die Ferien?«
    Nein, ich setze nie wieder einen Fuß in dieses Haus, es jagt mir Angst ein und macht mich traurig, und ich wünschte, du wärst eine Mutter mit funktionierenden Augen, aber das ist wohl unmöglich. »Gut.«
    Sie

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