Wintermädchen
es immer noch die Bleistiftmarkierungen, die anzeigen, wie viel ich seit unserem Einzug bis zum Beginn der Highschoolzeit jedes Jahr gewachsen war. Der einzige Unterschied: Das Holz wurde mit Klarlack überpinselt, sodass die Striche und Daten nun konserviert sind und nicht versehentlich verwischt werden können.
»Lia? Frühstück.«
»Ich komme.«
Als ich die Küche betrete, füllt sie sich gerade Müsli in eine Schüssel. Auf der Anrichte türmen sich Lebensmittel: Cornflakes, Haferflocken, Brot, Bananen, ein Karton Eier, eine ganze Palette Joghurt, Tüten mit Bagels und Donuts. Sie war einkaufen, während ich schlief.
Über die Lebensmittel hinweg treffen sich unsere Blicke. Keiner sagt ein Wort, aber das alte Textbuch hängt in der Luft:
dumusstessen/habkeinenhunger/issetwas/
höraufmichzuzwingen/hörmirzu/lassmichinruhe
Drüben auf der anderen Straßenseite läuft Mr s Parrish durch ein tochterloses Haus, eine cassielose Küche.
Die Donutsbagels mit Zucker drauf duften himmlisch und ich weiß, was einmal kosten anrichten würde Ich muss irgendwas essen, ein bisschen was, damit sie nicht ausrastet, dafür bin ich jetzt einfach zu müde. Ich nehme das Toastbrot in die Hand. »Da sind doch keine Süßungsmittel drin?«, frage ich.
»Natürlich nicht«, sagt sie und gießt sich Sojamilch in ihre Müslischüssel. Ihre Augen werden ein bisschen größer, als ich eine Scheibe (77) aus der Tüte nehme und sie in den Toaster stecke.
»Ist von Omas Erdbeermarmelade noch was da?«
»Die hab ich weggeschmissen. Ich habe den Dichtungsringen nach all den Jahren nicht mehr getraut. Aber ich hab Pflaumenmus und Honig mitgebracht.«
Wenn ich den Toast ohne Belag esse, wird sie explodieren. »Dann nehme ich ein bisschen Honig.«
Als der Toast fertig ist, streiche ich eine Mikroschicht Honig drauf (30) und gieße mir eine Tasse Kaffee ein, schwarz. Sie tut so, als würde sie nicht lauschen, wie ich mich durch mein Frühstück knuspere. Ich tue so, als ob ich nicht merke, dass sie lauscht.
»Warum stehen die ganzen Bilder auf dem Fußboden?«, frage ich.
»Ich wollte eigentlich streichen, kann mich aber nicht entscheiden, welche Farbe ich nehmen soll«, erklärt sie. »Das geht jetzt schon seit Monaten so. Ich sollte sie einfach wieder aufhängen.«
Mehr Gesprächsstoff gibt es nicht. Gott sei Dank liegt die Zeitung da.
Nachdem das Geschirr gespült ist, dusche ich und putze mir die Zähne, wobei mein Blick den Spiegeln ausweicht. Ich ziehe mich so langsam wie möglich an und bete, dass eine Naturkatastrophe passiert, wegen der alle Ärzte für den Rest des Tages umgehend zum Notdienst im Krankenhaus erscheinen müssen.
»Lia?«, ruft sie. »Kommst du wieder runter?«
Sie wartet im Wohnzimmer. Als ich mit tropfenden, nassen Haaren hereinkomme, klopft sie auf das Sofakissen neben sich, nur einmal, als wäre sie sich nicht ganz sicher.
Ich setze mich auf die andere Couch, die mit der elektrischen Heizdecke.
»Also«, beginnt sie. »Worauf hast du Lust?«
»Weiß nicht. Und du?«
»Wir könnten uns unterhalten.«
Ich hätte ins Bett gehen sollen. »Okay.«
»Wie läuft’s in der Schule?«
»Es nervt.«
Sie beugt sich vor, um die Zeitschriften auf dem Tisch zu ordnen. »Hast du deine Bewerbung schon abgegeben? Und an der Collegeführung teilgenommen?«
»Ich brauche keine Führung. Ich war schon als Kleinkind immer dort.«
»Vielleicht lernst du das College dann mal aus einem anderen Blickwinkel kennen. Du kannst dich mit demjenigen austauschen, der die Führungen macht, und ein paar neue Freundschaften schließen. Das würde dich vielleicht etwas anspornen.«
Es geht also los.
Ich werfe die Decke ab und stehe auf. »Das ist doch bescheuert. Du hältst mir jetzt Vorträge und kommandierst mich herum, ich brülle dich an so wie immer. Wir schaffen es nicht mal, auch nur so zu tun, als kämen wir miteinander klar. Ich hau ab.«
Sie hebt beschwichtigend die Hände. »Warte. Es tut mir leid. Keine Vorträge, versprochen. Nur noch ganz kurz, okay?«
Ich setze mich wieder und starre auf meine Füße.
»Als du noch hier gewohnt hast«, fährt sie fort, »und an den Wochenenden deinen Vater besucht hast, was hast du da mit ihm unternommen?«
»Meistens sind wir in Buchhandlungen gegangen und haben da gelesen. Und manchmal ist er mit mir Squash spielen gegangen.«
»Spielst du gern Squash?«
»Nein, überhaupt nicht. Scheußliches Spiel.«
»Warum hast du ihn dann begleitet?«
»Weil er sich darüber
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