Wintermädchen
nur dann weiter hier wohnen darf.«
»Ach, so weit wird es gar nicht kommen. Mach doch am Wochenende deinen Käsekuchen mit Erdbeeren. Den hat sie immer so gern gemocht.«
Wenn man verhungert, schüttet der Körper Adrenalin aus. Das will niemand kapieren. Abgesehen vom Hungergefühl und dem Frieren fühle ich mich tatsächlich meistens so, als könnte ich Bäume ausreißen. Geruchssinn und Gehör sind übermenschlich geschärft. Und ich kann Gedanken lesen und bin den anderen immer zwei Schritte voraus. Ich mache gerade so genügend Hausaufgaben, um nicht vom Radar erfasst zu werden. Und jede Nacht steige ich auf dem Stepper Stufe um Stufe zum Himmel hinauf, bis ich hinterher ins Bett falle und Cassies Stimme vor Erschöpfung nicht mehr wahrnehme.
Dann ist es plötzlich Morgen, ich springe wieder ins Hamsterrad, und alles geht von vorne los.
50 0 Kalorien am Tag, das funktioniert. Mein Gewicht: 42,5.
Ziel erreicht. Juchee.
Eigentlich müsste ich wie funkelnder Diamantchampagner sein, der zu den Sternen hinaufschießt, aber der Lautsprecher zwischen meinen Ohren wummert weiter, volle Lautstärke, ein neues Ziel: 39. 39. 39.
39 heißt Gefahr. 39 ist wie ein Silvesterfeuerwerk in einer kleinen Metallkiste.
Als sie mich zum zweiten Mal einsperrten einlieferten, nur zu meinem Besten, wog mein ganzer Körper mit Haut, Haaren, meinen babyblauen Zehennägeln und sämtlichen Zähnen 3 9 Kilo. 4, 5 Kilo Fett, 34, 5 Kilo alles andere.
Kränze aus eiterfarbenem Fett umklammerten meine Schenkel, meinen Hintern und meinen Bauch, aber die Ärzte sahen sie nicht. Sie behaupteten, mein Gehirn schrumpfe. Elektrische Entladungen blitzten durchs Innere meines Schädels. Meine müde Leber packte ihre Koffer. Meine Nieren hatten sich in einem Sandsturm verlaufen.
3 9 Kilo waren nicht genug Inhalt für ein Mädchen aus Papier wie Lia.
3 9 Kilo war, als würde einem die Haut abfallen.
3 9 Kilo, und überall begann flaumartiges Affenhaar zu wachsen, das mich warm hielt.
Ich müsse dicker werden, sagte man mir.
Ich teilte ihnen mit, mein Wunschgewicht seien 3 6 Kilo, und wenn ich sie ernst nehmen solle, wäre es besser, mich nicht anzulügen.
Als mein Gehirn wieder zu arbeiten begann, überprüfte ich ihre Berechnungen und stellte fest, dass irgendwem ein Fehler unterlaufen war, weil man die Schlangen in meinem Kopf und die dicken Schatten, die sich in meinem Brustkorb verbargen, nicht mit eingerechnet hatte.
39 ist machbar. Ich war schließlich schon mal da, im Land der Gefahren, mit seiner süßlichen, sirrenden, rotbraun verrauchten Luft und den listigen Kobolden, die unter Brücken lauern.
Aber wenn ich 39 wiege, wünsche ich mir 34. Und um da hinzukommen, müsste ich meine Knochen mit einem Silberhammer aufbrechen und mein Knochenmark mit einem langen Löffel herauspulen.
042.00
Als das College-Semester zu Ende ist, fliegt Dad nach New York zu einem Historikerverband, um dort ein wenig zu forschen und um die vielen verrückten Frauen in seinem Haus mal eine Weile los zu sein. Jennifer fährt Emma zum Basketballspiel. Ich bleibe zu Hause und lerne. Ich verbrenne 85 8 Kalorien auf dem Stepper, mit qualmenden Beinen und brennendem Haar.
Als sie zurückkommen, habe ich meine Lernkarten und aufgeschlagenen Bücher im ganzen Wohnzimmer verteilt. Sie bemerken es gar nicht, weil Emma Schmerzen hat und Jennifer kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. Vor dem Spiel ist meine Stief schwester beim Aufwärmen auf ihre Schnürsenkel getreten, ist hingefallen und hat sich dabei den Arm gebrochen. Die letzten beiden Stunden haben sie in der Notaufnahme zugebracht, und nun hat Emma einen knallrosafarbenen Gips um den Arm, und Jennifers Wimperntusche ist ein einziges Chaos.
Ich umarme Emmas unverletzte Seite und küsse sie auf den Kopf. »Ich weiß, wie du dich fühlst, Emmachen. Ich hab mir damals in der ersten Klasse den Arm gebrochen, als Dad meine Stützräder abmontiert hat. Ich bin einen Meter geradelt und fiel hin. Bin so heftig auf den Boden aufgeschlagen, dass der Beton einen Riss bekam. Das heilt schnell wieder, keine Sorge.«
»Hier ist der Fall ein wenig ernster«, sagt Jennifer. »Emma hat sich Elle und Speiche gebrochen.«
»Na ja, so ist das eben, wenn man sich den Arm bricht«, sage ich vorsichtig. »Ein Bruch von Elle oder Speiche oder beidem, das sind die Knochen im Unterarm. Willst du mal mit meiner Mutter darüber reden?«
»Die ist Kardiologin, die kennt sich damit doch gar nicht aus.«
Ich öffne schon den
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