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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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solltest Putzmittel kaufen, in der Handtasche hinten in deinem Schrank liegt eine verschimmelte Banane. Ekelhaft.«
    »Du bist nicht da. Ich rede nicht mit dir.«
    Sie legt den Kopf schief. »Du meinst es wirklich ernst, oder? Du denkst, ich sei nur eine Einbildung.«
    Ich versuche an ihr vorbeizugehen, aber meine Stiefel sind in der Schneewehe festgefroren.
    »Was muss ich tun, damit du mir glaubst?«, fragt sie.
    »Solltest du nicht im Himmel sein oder so?«
    »Das ist alles ein bisschen kompliziert.«
    »Du bist ein Produkt meiner Fantasie oder eine Halluzination, die von meinen Medikamenten kommt oder von diesem verdammten Keks. Du existierst nicht.«
    Ihre Augen flackern wie eine Lampe, die man aus- und wieder anschaltet. »Das verletzt mich.«
    »Meine Schwester braucht ihr Medikament. Ich muss los.«
    Das Licht verändert sich, und ihre Erscheinung verblasst ein wenig. Durch sie hindurch kann ich die Umrisse der Regale erkennen.
    Cassie hält ihren Mund ganz dicht an mein Ohr. »Du hast es fast geschafft, Freundin. Bleib stark.«
    Ich kann mich nicht rühren. Kann nicht wegrennen.
    »Ich weiß, wie mies du dich fühlst. Als ob man in der Falle säße«, sagt sie. »Aber es wird besser, versprochen. Sehr viel besser.«
    Ihr Blick ist derselbe wie früher, wenn sie mich anflehte, mit ihr in den Park zu gehen, damit sie dort zufällig mit Absicht ihrem neuesten Schwarm über den Weg laufen konnte. Ich sollte einfach die Augen zumachen, bis sie verschwunden ist. Mach ich aber nicht.
    »Was redest du denn da?«, frage ich.
    Sie wischt mir eine Schneeflocke von der Wange. »Du bist nicht tot, aber lebendig bist du auch nicht. Du bist ein Wintermädchen, Lia-Lia. Gefangen zwischen den Welten. Du bist ein Geist mit Herzschlag. Bald wirst du die Schwelle überschreiten und bei mir sein. Ich bin überglücklich. Hab schreckliche Sehnsucht nach dir.«
    Ich weiche zurück, versuche, die Spinnweben aus meinem Kopf zu schütteln. »Bist du noch ganz dicht? Ist dir denn völlig egal, was passiert ist?«
    Sie runzelt die Stirn.
    »Ist es dir egal, dass deine Eltern die Wände hochgehen? Du hättest das nicht tun dürfen! Du hättest um Hilfe bitten müssen!«
    Der Schnee weht auf sie zu und formt sich zu einem Luftwirbel, der bis unter die Decke geht.
    »Hab ich doch versucht.« Die Flammen ihrer Augen brennen sich in meine Wangen. »Aber du bist ja nicht ans Telefon gegangen.«
    043.00
    Das Ganze ist nicht passiert. Ich habe sie nicht gesehen. Alles ist gut.
    Gut. Gut. Gut. Gut. Gut.
    Ich bringe das Medikament nach Hause zu Emma, esse ein Fertigpäckchen Tomatensuppe (82) und tue so, als würde ich Hausaufgaben machen. Während die beiden sich einen Film ansehen, lasse ich die Wanne mit kochend heißem Wasser volllaufen, ziehe mich aus und lege mich hinein.
    Das Karussell dreht sich zu schnell. Ich will raus. Ich will meine Augen schließen können oder zumindest blinzeln. Ich will selbst bestimmen, was ich sehe und was nicht. Dieser ganze Mist, mit dem wir uns jeden Tag im Wachzustand beschäftigen – Schule, Haus, Einkaufszentrum, Wel t –, ist schlimm genug. Kann ich nicht wenigstens im Schlaf mal meine Ruhe haben? Oder wenn ich schon dazu verdammt bin, von Geistern verfolgt zu werden, sollten sie ihr Werk dann nicht nur nachts tun und sich auflösen, wenn der erste Sonnenstrahl sie trifft?
    Ich hebe meinen Arm aus dem Wasser. Er ist ein Baumstamm. Als ich ihn wieder untertauche, bläht er sich noch mehr auf. Die Leute sehen den Baumstamm und nennen ihn Grashalm. Sie brüllen mich an, weil ich nicht dasselbe sehe wie sie. Niemand kann mir erklären, warum meine Augen anders funktionieren als ihre. Niemand kann etwas daran ändern.
    Wieder dreht sich das Karussell. Um auszusteigen, muss ich schreien, glaube ich. Aber ich kann nicht. Mein Korsett ist so eng geschnürt, dass ich kaum atmen kann.
    Als Cassie in dieser Nacht zu mir ins Bett kriecht und ihre Hände sich um meinen Hals legen, erwähnt sie den Zwischenfall in der Apotheke mit keinem Wort. Ich auch nicht.
    Die ganze Nacht über schrillt mein Herz wie ein Feueralarm.
    044.00
    Die Show muss weitergehen.
    Da es ganz und gar unmöglich ist, dass ein Kind mit gebrochener Elle und Speiche beim Winterkonzert der Grundschule Geige spielt, kramt der Dirigent eine Triangel heraus, die Emma im richtigen Moment erklingen lässt. Außerdem ist sie für das Schlittengeläut bei Jingle Bells zuständig. Den ganzen Donnerstagabend übt sie.
    Am Freitag komme ich früher von der

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