Wintermädchen
Mund, beschließe dann aber, dass es die Mühe nicht lohnt.
»Mach bitte das Sofa frei«, sagt Jennifer mit ihrem Gesicht im Kühlschrank. »Sie muss sich ausruhen und den Arm hochlegen.«
Ich baue ein Emma-Nest aus weichen Decken und Kissen und mit Elefant, Bär und Schnecke, dem engsten Kreis ihrer Plüschfreunde.
Während Emma mit der Fernbedienung in der funktionstüchtigen Hand zurücksinkt, überreicht mir Jennifer die Autoschlüssel und ihre Bankkarte. »Fahr doch bitte zur Apotheke und hol Emmas Medikament ab«, sagt sie. »Und bring ihr ein paar Eis am Stiel mit – mit Fruchtsaft und ohne Glukosesirup.«
»Ich will kein Eis am Stiel, ich will Schokolade«, verfügt das Opfer auf dem Sofa.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich genug wiege, um aufs Gaspedal zu treten. Ich wiege 42, 5 Kilo und habe ein Tagesdefizit von 150 0 Kalorien. Wenn ich noch einen Totalschaden verursache, sperren die mich ein und werfen den Schlüssel weg.
»Äh, ich bin gerade irgendwie ganz schön zittrig. Ich glaube, Autofahren wäre keine so gute Idee.«
Jennifer greift in das große Glas auf der Anrichte, holt ein Haferflocken-Rosinen-Cookie von der Größe meines Kopfes heraus und hält es mir hin. »Könnte es mal eine Minute nicht um dich gehen, Lia? Steck dir was zu essen in den Mund, hör auf zu jammern und fahr zu der verdammten Apotheke!«
Auf dem Fahrersitz kaue ich auf dem Keks herum, während der Schalthebel noch sicher auf »Parken« steht. Dieser Keks hat keine Kalorien. Er ist kein Essen. Er ist Treibstoff. Gas und Öl, damit der Motor nicht blockiert. Ich würge ein Viertel davon hinunter und schalte auf »Fahren«.
Der Typ hinterm Apothekentresen erklärt, dass gerade unheimlich viel los sei, wegen des Magen-Darm-Virus, das gerade umgeht, und dass ich noch zehn bis fünfzehn Minuten auf Emmas Medikament warten muss. Hier drinnen gibt es so viel Weihnachtsdeko, dass für Duschgel und Hustenbonbons kaum noch Platz ist. Die Musik ist ein bisschen zu laut. Und außerdem haben sie es irgendwie geschafft, Lebkuchenduft in den Laden zu pumpen.
Ich kann die Abführmittel und Diuretika nicht finden. Sie haben alles umgeräumt. Gang Nummer vier ist jetzt Weihnachtswunderland. In Gang Nummer drei liegt eine Schneewehe auf dem Boden. Eine richtige Schneewehe.
Ich sehe mich um. Müde Leute wandern umher, auf der Suche nach Hämorridensalbe, Schmerzmitteln und Mundwasser. Zwei Damen schlurfen mitten durch den Schnee und wirbeln ihn auf, ohne es zu merken. Er fällt wieder zu Boden, ohne zu schmelzen. Ganz schön teure Werbung für eine Apotheke, aber die Leute behaupten ja auch, Amoskeag sei das neue Boston. Bestimmt meinen sie damit Sachen wie diese hier.
Cassie betritt Gang drei. Die tote Cassie.
»Hi«, sagt sie. »Unterstes Regal. Da findest du sie.«
Sie trägt eine graue Skijacke über ihrem blauen Kleid, und ihr Haar klebt am Kopf und ist zu einem nassen Pferdeschwanz zusammengebunden, als käme sie gerade aus der Dusche. Ihr Geruch nach Ingwer, Gewürznelken und karamellisiertem Zucker hängt schwer in der Luft.
»Bist du denn nicht stolz auf mich, Lia, dass ich rausgekriegt hab, wie ich dir folgen kann?« Ihre Stimme surrt, als säßen ihr sterbende Fliegen im Hals, die nicht mehr herauskönnen.
Ich bücke mich zum untersten Regal. Sie hat Recht. Ich greife nach zwei Schachteln Diuretika und drei Schachteln Abführmitteln. Sie wird gleich verschwinden, jede Sekunde jetzt, denn sie ist eine Halluzination.
Ich richte mich wieder auf. Sie steht so dicht neben mir, dass ich ihren Atem riechen könnte, wenn sie atmen würde.
»Geh weg«, flüstere ich.
»Machst du Witze?« Sie tritt nach dem Schnee, und er füllt den ganzen Gang, blendet den Rest der Apotheke aus und dämpft das Geplärre der Weihnachtslieder. Die Schneeflocken hängen starr in der Luft, wirbeln nicht hoch, fallen nicht runter.
»Du gehörst nicht hierher«, sage ich. »Geh zurück.«
Sie legt verwirrt die Stirn in Falten. »Aber ich will mit dir rumhängen. Mann, es war echt schwierig rauszubekommen, wie das hier geht. Ist gar nicht einfach, hin und her zu wechseln.«
Ich halte mir die Ohren zu. »Hör auf.«
Dass sie mich nachts heimsucht, ist ja noch nachvollziehbar. Nachts bin ich müde, vollgepumpt mit Medikamenten und unterzuckert. Aber in Gang drei von Binneys Apotheke? Jennifer muss mir irgendwas in diesen Keks getan haben. Sie will einen Fall für die Klapse aus mir machen, dann ist sie mich los.
Cassie lehnt sich an das Regal. »Du
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