Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
andere Wahl gehabt hatte, als die Burgtore beim Näherkommen des Feindes zu verrammeln, obwohl sich noch viele Stadtbewohner draußen befanden. Ja, das Haus bot seinen Angehörigen Halt und Stütze. Aber hin und wieder musste es auch Entscheidungen treffen, die das härteste Herz zerrissen. Und Croesans Herz war noch nie besonders hart gewesen.
Anyara entdeckte in die Zellenwand eingeritzte Zeichen. Sie fuhr mit den Fingerspitzen darüber – ein Dutzend kurze, flache Striche, die wohl ein früherer Gefangener in das Mauerwerk gekratzt hatte, um die Tage im Kerker zu zählen.
Ihre eigenen Tage vergingen mit zermürbender Langsamkeit. Wie um ihre Ohnmacht zu genießen, dehnte sich jede Minute endlos hin. Und doch wünschte sie manchmal, die Zeit möge ganz stillstehen, um den Augenblick hinauszuzögern, in dem ihre Hoffnung starb. Jeden Morgen, wenn sie die Augen aufschlug, rechnete sie halb damit, dass die Schergen kommen und sie zum Richtplatz führen würden.
Einmal stieß sie sich mit aller Kraft vom Boden ab, sprang hoch und rüttelte an den Eisenstäben vor dem winzigen Fenster. Sie gaben keinen Zoll nach. Dann versuchte sie einen Wärter ins Gespräch zu ziehen, der eine Spur freundlicher wirkte als die anderen. Er antwortete nicht und nahm weder von ihrem schönsten Lächeln noch von ihrem hochgeschobenen Rocksaum Notiz. Einen halben Tag lang spielte sie krank, in der Hoffnung, an einen weniger gut gesicherten Ort verlegt zu werden. Sie wand sich auf ihrer Matratze, presste beide Hände gegen den Bauch und ahmte die stöhnenden Laute nach, die sie gehört hatte, wenn die Mägde in Kolglas in den Wehen lagen. Als eine Wärterin die Zelle betrat und sie fragte, was los sei, tat sie, als sei sie zu schwach zum Antworten. Die Frau zerrte ihren Kopf an den Haaren hoch, musterte sie kurz und stieß sie dann mit einem verächtlichen Schnauben zurück auf das Lager. Nachdem ein paar Stunden vergangen waren und niemand mehr kam, um nach ihr zu sehen, gab sie das Theater auf.
Die Zeit verstrich, bis sie fast daran glaubte, die Feinde hätten den Plan aufgegeben, sie zu töten. Sie setzte sich gegen diesen Gedanken zur Wehr. Wenn es eine Hoffnung für sie gab, dann durfte sie nicht auf der Illusion beruhen, die Welt habe plötzlich ihren harten, erbarmungslosen Charakter geändert. Sie musste für sich selbst sorgen, wie sie es immer getan hatte.
III
Eine Familie – Mutter, Vater und zwei kleine Söhne – sollte auf dem Hauptplatz von Anduran hingerichtet werden. Kanin nan Horin-Gyre war gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen. Die Leute hatten versucht, den Truppen des Titelerben die geforderten Nahrungsmittel vorzuenthalten. Einige lose Dielenbretter hatten die Grube verraten, in der sie etwas Mehl und Pökelfleisch versteckt hatten. Das war ihr Todesurteil gewesen. Niemand stellte den Befehl in Frage, die Kinder zusammen mit ihren Eltern zu töten. Diese Denkweise war unter den Geschlechtern des Nordens allgemein verbreitet. Wenn man schon töten musste, dann am besten alle, die später einmal für diesen Tod Rache nehmen konnten. Immerhin hatte Kanin angeordnet, dass die Leute schnell sterben sollten – ein Schnitt mit einem scharfen Messer durch die Kehle, während sie mit verbundenen Augen auf dem Kopfsteinpflaster des Hauptplatzes knieten. Zusätzliche Grausamkeit hätte die Botschaft, die ihr Tod an die Bevölkerung aussenden sollte, nicht verstärkt.
Es war nicht der trotzige Widerstand dieses einfachen Volkes, der den Titelerben des Hauses Horin-Gyre in eine so düstere Stimmung versetzt hatte. Mit Ablehnung hatte er gerechnet; eigentlich hatte er sogar mit mehr Ablehnung gerechnet. Es war vielmehr die Tatsache, dass er hier in diesem elenden Nieselregen stand und die Hinrichtung beobachtete, während sich seine wahren Feinde hinter dicken Mauern verschanzten, die nicht so leicht zu erstürmen waren. Er hatte, während er sich mit seinem Heer durch die scheinbar endlose Wildnis von Anlane kämpfte, zu träumen gewagt, dass das Schicksal ihnen gewogen wäre. Er hatte gehofft, dass er schon bald nach seiner Ankunft das Haupt des Lannis-Thans über dem Torhaus der Festung aufspießen könnte. Stattdessen musste er mit einer ermüdenden Belagerung rechnen, bei der die Zeit ein ebenso unerbittlicher Gegner war wie die Krieger auf den Wällen von Burg Anduran. Manchmal fiel es ihm schwer, in Demut den Lauf der Dinge anzunehmen, wie es sein Glaube befahl.
Dieser Krieg war von Beginn an ein verzweifeltes
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