Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
los. Seine Blicke schweiften durch den Raum. Nie war der Audienzsaal festlicher dekoriert gewesen. Goldbänder spannten sich vom Thron zu polierten Eberspießen, die fächerförmig an den Wänden hingen. Girlanden aus grünen Zweigen schmückten die Banner von Anduran, Kolglas, Glasbridge, Targlas und Tanwrye, den fünf Städten in seinem Herrschaftsgebiet. Ein mit Goldfäden durchwirkter roter Läufer war der Länge nach auf dem Boden ausgerollt.
In eben diesem Saal hatte Croesan die Kette mit dem Siegel empfangen, nur Stunden nach dem Tod seines Vaters, der einige Monde zuvor unversehrt aus der Schlacht im Tal der Steine heimgekehrt und dann einem Fieber zum Opfer gefallen war. Nun befanden sich die drei nächsten Generationen der Lannis-Linie in dem prächtigen Saal. Croesans Blick verweilte auf Sohn und Schwiegertochter. Naradin und Eilan trugen schlichte weiße Gewänder, die bis zum Boden reichten. Das Kleinkind in Eilans Armen war in ein cremefarbenes Laken gewickelt. Hinter ihnen hatte sich eine feierliche Gruppe von Würdenträgern und Höflingen versammelt. Der Anlass hätte eine weit größere Schar gerechtfertigt. Unter gewöhnlichen Umständen wäre von jeder Familie, die Rang und Namen besaß, ein Vertreter entsandt worden, um dieser Zeremonie beizuwohnen.
Seitlich neben dem Than stand ein mit Wasser gefülltes silbernes Becken auf einem Podest aus Eichenholz. Davor wartete Athol Kintyne, der Oberste Protokollbeamte des Hauses Lannis. Eine Aura der Weisheit umgab den alten Mann mit seinem grauen Haar und Bart, den gebeugten Schultern und den tief eingegrabenen Falten im Gesicht. Zu den Pflichten, die ihm und einem Dutzend untergebener Urkundsbeamter nach alter Sitte oblagen, gehörte die Namengebung der Neugeborenen. Diese Namengebung erfolgte in der Regel nach den ersten drei Lebensmonaten eines Kindes. Ausnahmsweise und aus Gründen, die niemand in Frage stellte, sollte der Enkel des Thans seinen Namen erhalten, noch ehe er einen Monat alt war.
»Fangen wir an«, murmelte Croesan.
Naradin und Eilan traten vor. Sie blieben neben dem Silberbecken stehen und verneigten sich vor dem Obersten Protokollbeamten.
»Wer ist dieses Kind?«, fragte Athol.
Es war Eilan, die antwortete. »Dieses Kind ist der gemeinsame Sohn von Eilan, der Tochter von Clachan und Dimayne, und Naradin, dem Sohn von Croesan und Liann.«
Athol nickte. »So nehmt denn die Waschung vor«, sagte er.
Naradin und Eilan wickelten den Säugling gemeinsam aus dem Laken und tauchten ihn vorsichtig in das Becken. Er gab keinen Laut von sich, während Naradin ihn festhielt und Eilan mit beiden Händen Wasser schöpfte und ihm über das Köpfchen goss. Dann hob Naradin ihn wieder aus dem Becken, und Athol reichte ihnen ein neues, makellos weißes Laken, in das sie ihn einwickelten.
»Wer ist dieses Kind?«, fragte der Protokollbeamte noch einmal.
Nach kaum merklichem Zögern antwortete Eilan mit klarer, fester Stimme: »Dieses Kind ist Croesan nan Lannis-Haig.«
Naradin beobachtete seinen Vater. Sie hatten ihm nicht verraten, wie sie den Kleinen nennen wollten. Nun huschte ein Lächeln über die traurigen Züge des Älteren, und ein verräterischer Schimmer trat in seine Augen. Er blinzelte.
Athol beugte sich über den Kleinen und befestigte ein Bändchen an seinem Handgelenk.
»Sei willkommen unter uns, Croesan nan Lannis-Haig, Sohn von Naradin und Eilan, und mach deinem Namen Ehre.«
Gedämpfter Beifall war zu hören, als sich der Oberste Protokollbeamte aufrichtete und den Eltern des Kleinen freundlich zunickte. »Eine gute Namenwahl«, sagte er.
»Das glauben wir auch«, entgegnete Eilan lächelnd.
»Da wäre noch etwas«, sagte Naradin. Er wandte sich an seinen Vater. »Than, es ist mein Wunsch und Wille, anstelle meines Sohnes den Blutseid zu sprechen.«
Croesan zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ungewöhnlich …« Er warf Athol einen fragenden Blick zu.
»Aber durchaus möglich«, bestätigte der Protokollbeamte. »Unter bestimmten Umständen kann der Schwur von einem Stellvertreter gesprochen werden.« Er machte eine Pause. Als er weitersprach, klang seine Stimme etwas unsicher. »Wenn … wenn damit zu rechnen ist, dass vor Erreichen der Volljährigkeit der Tod eintritt.«
Eilan herzte den Kleinen, als gäbe es nichts und niemanden auf der Welt außer ihm. »Unser Sohn hat einen Namen«, sagte sie, ohne aufzuschauen, »aber in diesen schweren Zeiten ist das nicht genug für den Enkel eines Thans. Es wäre nicht
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