Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
presste sie gegen den kalten Stein. Anyara spürte eine unheimliche Kraft in ihrem Gegenüber, nicht nur in den Händen, die sie wie in einem Schraubstock festhielten, sondern auch in dem eiskalten Blick, der sie zu durchbohren schien. Sie fragte sich, was Wain hier eigentlich suchte. Es konnte nicht allein der Wunsch sein, ihr Angst einzujagen oder sie zu verspotten. Vielleicht war sie neugierig, wie dieses schwache Mädchen aus Kolglas der Gefangenschaft standhielt, oder sie wollte ihre eigene Glaubensstärke an Anyaras Unglauben messen.
»Der Schwarze Pfad wird sich durchsetzen«, fuhr die Schwester des Titelerben fort, »weil er die Wahrheit kündet. Wenn sein Siegeszug vollendet ist, werden die Götter wiederkehren und die Welt erneuern. Dagegen könnt Ihr alle nichts ausrichten, und deshalb seid Ihr dem Untergang geweiht.«
Unvermittelt ließ sie die Gefangene los, fuhr herum und verließ wortlos die Zelle. Anyara rieb sich die Oberarme. Wains Umklammerung würde ein paar blaue Flecken hervorrufen, das wusste sie jetzt schon. Doch das war ihre geringste Sorge. Ihr Onkel würde die Pfeilbotschaft nicht beantworten und auch sonst nichts unternehmen, um sie vor den Mördern des Horin-Gyre-Stamms zu retten. Ihr Leben wog nichts, wenn es darum ging, die Fortdauer des Hauses zu sichern.
Noch war die Burg von Seuchen verschont geblieben. Dafür zumindest konnten die Belagerten dankbar sein. Die Nahrung allerdings war knapp. Der Feind hatte so unvermittelt zugeschlagen, dass keine Zeit geblieben war, Lebensmittel aus den großen Speichern von Anduran herbeizuschaffen. Wären nur die Burgbewohner zu versorgen gewesen, hätten ihre Vorräte einige Wochen lang gereicht. Doch mit dem Näherrücken der gegnerischen Truppen waren viele Städter in die Festung geflüchtet, die mittlerweile doppelt so viele Menschen beherbergte wie sonst. In den Höfen und Ställen und in den großen Sälen des Wohnturms drängten sich die Leute um die spärliche Habe, die sie gerettet hatten. Mütter stillten ihre Säuglinge in den Korridoren. Um möglichst lange durchzuhalten, musste man die Rationen knapp bemessen. Hungrige Kinder wimmerten. Die Stimmung der Erwachsenen war mehr als gereizt.
Erst ganz zum Schluss, als die Vorhut des Horin-Gyre-Heeres bereits die Stadtmauer erklomm und in die Straßen ausschwärmte, hatte man die Tore der Festung verrammelt. Und die verzweifelten Stimmen derer, die man nicht mehr einlassen konnte, hatten Croesan fast das Herz zerrissen.
Inzwischen wankte die Hoffnung des Thans. Wenn Kolglas oder Glasbridge Hilfe geschickt hätten, wäre sie längst eingetroffen gewesen. Doch wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er selbst mit ihrer Unterstützung kaum eine Wende herbeiführen konnte. Taim Narran war mit dem Hauptheer in den Süden gezogen. Der größte und beste Teil der Truppen, die Lannis-Haig noch verblieben waren, hatte die Nordgrenzen verteidigt und saß nun vermutlich in Tanwrye fest. Wenn ihm tatsächlich jemand Beistand leisten konnte, dann Kolkyre und Lheanor oc Kilkry-Haig. Croesan wusste, dass der alte Than kommen würde, wenn es sich irgendwie ermöglichen ließ. Kilkry und Lannis verband seit dem Tag, da Sirian zum Than ernannt worden war, eine enge Freundschaft. Es war alles eine Frage der Zeit. Das Heer des Schwarzen Pfads, das Anduran in seiner Gewalt hatte, besaß nicht die Belagerungsmaschinen, um das Burgtor oder die Ringmauer zu durchbrechen; solch schweres Gerät hätte man nie und nimmer durch die Wälder von Anlane schleppen können. Falls Hilfe einträfe, ehe der Feind solche Maschinen an Ort und Stelle errichten konnte und ehe die Nahrungsvorräte auf der Burg erschöpft waren, ließe sich die Entscheidungsschlacht vielleicht vor die Tore der Festung verlagern.
Das Siegel von Lannis-Haig hing an einer Kette um den Hals des Thans. Er nahm es in die Hand und betrachtete das Relief von Burg Kolglas, dem Ursprung seines Hauses. Er fragte sich, ob sein Bruder wirklich den Tod gefunden hatte, wie Kanin nan Horin-Gyre in seiner Nachricht behauptete. Möglich war es. Die Tatsache, dass Kennet bis jetzt noch nicht in Anduran eingetroffen war, konnte nur bedeuten, dass es einen schwerwiegenden Grund gab, der ihn am Kommen hinderte. Und es schien ausgeschlossen, dass Anyara dem Feind in die Hände gefallen war – wie in der Pfeilbotschaft ebenfalls geschrieben stand –, ohne dass Kennet sie mit Leib und Leben verteidigt hätte.
Croesan ließ die Kette mit dem Siegel
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