Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
habe davon gehört.«
»Ess’yr kann dir den Weg zeigen. In dieser Stadt lebt eine Frau. Yvane, eine Na’kyrim . Bei ihr findet ihr Obdach. Ich schätze, dass sich weder die Schleiereulen noch die Krieger vom Schwarzen Pfad so weit in die Gebiete der Füchse vorwagen werden.« Er presste eine Hand vor den Mund, um einen quälenden Husten zu ersticken. Als der Anfall vorbei war, zeigten sich Blutflecken auf seiner Handfläche.
»Aber wir müssen nach Glasbridge oder nach Kolglas. Wir müssen …« Orisian verstummte, als Inurian seinen Arm umklammerte.
»Nein, Orisian«, keuchte der Na’kyrim . »Überleg doch! Die Schleiereulen würden euch in kürzester Zeit finden. Ihr seid jetzt nicht im Tal; ihr seid im Wald, und das ist Kyrinin-Gebiet.« Inurians graue Augen waren unverwandt auf Orisian gerichtet. Sie brannten mit einer Leidenschaft, wie Osirian sie heftiger noch nie erlebt hatte. »Anduran ist gefallen, Tanwrye vermutlich auch. Als Nächstes trifft es Glasbridge. Bring Anyara in Sicherheit, Orisian! Yvane kann euch helfen, nach Koldihrve zu gelangen, auf ein Boot. Dann seid ihr beide gerettet.«
Orisian spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er hörte kaum noch auf Inurians Worte. »Du kommst mit uns«, sagte er trotzig, aber er konnte nicht verhindern, dass ihm die Stimme zitterte.
Inurian schloss die Augen. »Nein«, sagte er. Die Kraft verließ ihn. Seine Hand glitt von Orisians Arm.
»Doch!«, rief Orisian und zog Inurian an sich. Die anderen wandten sich bei seinem Gefühlsausbruch um. Ess’yr eilte an seine Seite. Inurian murmelte etwas in der Sprache der Füchse. Sie bückte sich und löste Orisians Hände von dem Na’kyrim .
»Er kann nicht mitkommen«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
Orisian schob sie weg. »Er kommt mit!«, bekräftigte er noch einmal und schaute von einem zum anderen. »Er kommt mit!«
Anyara weinte lautlos. Die Tränen hinterließen helle Spuren auf ihren schmutzverkrusteten Wangen. Ess’yr und Varryn erwiderten ruhig seinen flehenden Blick, aber sie schwiegen. Nur Rothe sah ihn nicht an. Er hielt den Kopf gesenkt.
»Rothe«, sagte Orisian, »du hast ihn bis hierher getragen.«
Rothe räusperte sich und warf kurz den Kopf nach hinten, als scheue er vor seinen eigenen Gedanken zurück.
»Er bleibt«, sagte Varryn. »Wir können ihn nicht tragen. Der Anstieg …«
»Anstieg?« Irgendein Instinkt trieb Orisian, seine Wut gegen Ess’yr zu richten. »Weshalb habt ihr uns hierher gebracht, wenn ihr wusstet, dass wir ihn nicht mitnehmen können? Wir hätten einen anderen Weg einschlagen sollen.«
Als er den tiefen Schmerz in Ess’yrs zarten, sonst so gelassenen Zügen las, verflog sein Zorn. Sie gab keine Antwort.
»Er weiß Bescheid«, sagte Varryn. »Sein Vorschlag. Es gibt keinen anderen Weg.«
Orisian ließ den Kopf hängen. Nur ein einziges Mal hatte er eine ähnlich verzweifelte Ohnmacht gespürt, damals vor fünf Jahren, als ein Boot mit schwarzen Segeln von Kolglas zur Toteninsel aufgebrochen war, an Bord die in weiße Laken gehüllten Leichname seiner Mutter und seines Bruders.
»Wenn ich das geahnt hätte …«, sagte er mit gebrochener Stimme. In diesem Augenblick spürte eine flatternde Berührung. Inurians lange Finger strichen ihm sacht über die Hand.
»Still, Orisian!«, murmelte der Na’kyrim . Seine Lider zuckten. »Still!«, raunte er noch einmal. »Sei stark. Ich ruhe hier eine Weile aus. Du musst weitergehen.«
»Ich lasse dich nicht zurück«, keuchte Orisian.
»Ich bitte dich darum, es zu tun. Du hast mir immer vertraut, und du musst mir auch jetzt vertrauen. Aeglyss folgt mir. Ich höre ihn, in meinem Kopf. Deshalb bin ich so weit mit euch gekommen. Um ihn an diese Stelle zu locken, die für ihn das Ende des Wegs bedeutet. Seine Kyrinin werden den Dyn Hane nicht freiwillig betreten, und Aeglyss wird ebenfalls darauf verzichten, wenn er mich hat. Aber ihr müsst aufbrechen. Andere könnten kommen. Horin-Gyre-Krieger oder noch schlimmere Feinde. Sie werden sich nicht lange aufhalten lassen. Also beeilt euch!«
Orisian schüttelte den Kopf.
»Wo ist Ess’yr?«, fragte Inurian. Die Kyrinin-Frau trat vor und kniete neben ihm nieder.
Orisian verstand kein Wort des Gesprächs. Sie unterhielten sich leise, in der fließenden Sprache der Füchse, aber sein Inneres war ohnehin betäubt, und er starrte unverwandt auf Inurians schmale Hand, die immer noch dicht neben der seinen lag. Er entnahm dem Tonfall des Na’kyrim , dass er
Weitere Kostenlose Bücher