Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Ess’yr eine Frage stellte. Sie antwortete nicht sofort. Varryn trat näher und zerbrach etwas. Er war wütend. Als Ess’yr endlich antwortete, fuhr ihr Bruder herum und ging auf den Dyn Hane zu. Inurian lächelte. Ess’yr beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Mund.
»Geh!«, flüsterte Inurian.
Es dauerte eine Weile, bis Orisian begriff, dass der Befehl ihm galt. Abermals schüttelte er den Kopf.
»Nimm ihn mit, Rothe«, sagte Inurian. Ess’yr hatte sich erhoben und entfernte sich. Ihre Schultern wirkten starr, als müsse sie sich zum Aufbruch zwingen.
Rothe packte Orisian am Arm. »Kommt!«, sagte er.
Anyara kniete nieder und umarmte den Na’kyrim . »Leb wohl«, wisperte sie, dann stand sie auf und folgte den Kyrinin.
»Orisian …«, begann Rothe, aber Orisian schüttelte seine Hand ab und nahm Inurian in die Arme, wie es seine Schwester getan hatte. Er spürte, wie sich Inurians Brustkorb hob und senkte, hörte sein stockendes Atmen.
»Geh«, flüsterte ihm Inurian ins Ohr. »Er ist nahe. Geh, Orisian! Ich werde dich nicht vergessen.«
»Wir sehen uns wieder«, entgegnete Orisian. Dann zog ihn Rothe sanft hoch und führte ihn weg.
X
Der Wald atmete sanft und gleichmäßig. Der Hauch einer Brise bewegte die Zweige. Eine Eule, die hoch am Stamm einer Eiche nistete, spähte blinzelnd in die Tiefe, wo leichtfüßige Gestalten vorüberhuschten. Auf einem Felsenhügel hob ein Schwarzbär, der mit der Schnauze in mulchgefüllten Ritzen nach Insekten wühlte, mit einem Mal den Kopf und schnüffelte in alle Richtungen, bis er einen bestimmten Geruch aus der Luft gefiltert hatte. Ärgerlich brummend kletterte er nach unten und trollte sich. Die Gestalten tauchten in Windeseile aus dem Wald auf, liefen mit weiten Sprüngen an dem Hügel vorbei und waren gleich darauf wieder verschwunden. Mäuse duckten sich ins federnde Moos, als nahezu lautlose Schritte durch ihr Reich streiften. Ein einzelnes verdorrtes Blatt, das der Herbstwind übersehen hatte, trudelte von einem Baum und wurde durch den Luftzug eines schnellen Läufers noch einmal hochgewirbelt, ehe es endgültig zu Boden sank.
Inurian stand am Fluss. Der Dyn Hane befand sich hinter ihm. Das Rauschen des Wasserfalls übertönte alle anderen Geräusche. Die Wintersonne war durch die Wolken gebrochen und erhellte die oberen Ränder der Klippen. Aus der Luft war die bittere Schärfe gewichen. Es ist wunderschön, dachte er. Der Winter war immer seine liebste Jahreszeit gewesen.
Ein Gesicht schob sich vor sein inneres Auge, das Gesicht von Ess’yr. Den Schmerz, den es auslöste, konnte er nicht ertragen. Er verdrängte es und wandte die Blicke dem stillen Wald flussabwärts zu. Er wartete; wie lange, hätte er nicht sagen können.
Wie seltsam, dachte er, dass ich ein solches Ende nehmen muss. Ich bin mit dem Leben noch nicht fertig. Kann das alles wirklich so einfach aufhören? Natürlich kann es plötzlich zu Ende sein, sagte er sich vor. Es war ein Weg gewesen, der sich aus tausend kleinen Zufällen ergab, der zahllose andere Leben kreuzte: ein Na’kyrim auf der Wanderschaft, der in einer Burg am Meer einem guten Menschen und sehr viel später einem von Hass und Bitterkeit zerfressenen Halbblut begegnet war. Da gab es außerdem eine Frau, die vor langer Zeit im Fiebertraum die Saat zu einem Glaubensstreit ausgestreut hatte, zu einem Streit, der im Lauf der Jahre Than gegen Than hetzte. Dann ein Pfeil im Dunkel, ein einziger Pfeil.
Schemen huschten von Baum zu Baum. Kein Laut kündigte ihr Kommen an. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie tauchten erst einer nach dem anderen auf, dann in ganzen Horden. Die Kyrinin bildeten einen weiten Bogen, der ihm jeden Fluchtweg abschnitt. Und immer noch war nichts außer dem Rauschen des Wassers zu hören.
Inurian schwankte ein wenig. Es war eine entsetzliche Qual gewesen, sich zu erheben. Obwohl die Schmerzen nun fast verebbt waren, spürte er, dass die Anstrengung tief in ihm etwas aufgebrochen hatte. Seine Gedanken versuchten sich von ihm zu lösen und nach oben zu steigen. Es fiel ihm schwer, sie festzuhalten. Er schaute auf. Der Himmel war ein Feld aus reinem Blau. Das Licht schien eine solche Klarheit zu besitzen, dass er, wäre der Fleck, an dem er stand, nicht von Felswänden umstellt gewesen, bis ans Ende der Welt gesehen hätte. Einen Augenblick lang schwebte er dieser blauen Weite entgegen. Er nahm sich zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Lichtung zu.
Aeglyss war jetzt
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