Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Süden sind. Wenn es uns gelingt, ungesehen zum Siriandeich zu kommen, können wir die Straße von dort aus benutzen. Oder haben sie den Deich bereits erobert?« Anyara zuckte mit den Schultern, als er sie fragend ansah.
»Also gut.« Orisian mied bewusst Varryns Blick, weil er Angst hatte, dass ihn der Mut verlassen könnte. »Dann tun wir das. Zunächst bleiben wir zusammen. Was ist mit Inurian? Können wir den Pfeil entfernen?«
»Nein.« Ess’yrs Stimme war leise, aber entschieden. »Er würde sterben.«
Orisians Behauptungswille löste sich in nichts auf. Er schaute Ess’yr an. Ihre Hand lag auf Inurians Brust. Es war, als wache eine Mutter über ihr krankes Kind.
»Rothe, kannst du ihn noch tragen?«, fragte er leise, und der Hüne nickte.
Varryn und Ess’yr übernahmen die Führung wie immer. Manchmal bewegten sie sich im Dauerlauf, manchmal eilten sie mit weit ausgreifenden Schritten dahin. Meist ging es bergan. Orisian bemerkte es, und er wusste, dass sich damit die Strecke zum Siriandeich verlängerte, aber er schwieg. Es kostete seine ganze Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Außerdem begriff er, dass es von Vorteil sein konnte, wenn das Gelände zwischen ihnen und den Verfolgern möglichst uneben war. Vielleicht machte es keinen Unterschied – die Leibgarde seines Vaters hatte immer behauptet, die Schleiereulen könnten selbst die Fährte eines vom Wind verwehten Blatts aufnehmen –, aber man musste jeden noch so kleinen Vorteil nutzen.
Orisian war am Ende seiner Kräfte, und er beobachtete, dass sich Anyara mit letzter Willensanstrengung vorwärtsschleppte. Rothe atmete gequält. Er schien kaum noch Luft zu bekommen. Dennoch blieb keiner von ihnen stehen.
Am frühen Nachmittag gingen die Kyrinin dazu über, die Hänge geradlinig zu überqueren. Das beanspruchte die Muskeln weniger, aber sie waren mittlerweile so erschöpft, dass sie bei jedem Schritt zu stolpern drohten. Nasses Gras, versteckte Wurzeln und das ansteigende Gelände täuschten die müden Augen und die schweren Beine. Orisian und Anyara kamen mehr als einmal zu Fall. Selbst Rothe, behindert durch die Last des bewusstlosen Inurian, torkelte wie ein Betrunkener, schaffte es aber stets, das Gleichgewicht zu halten.
Als Orisian, Anyara und Rothe schließlich nur noch in einem schwerfälligen Trott vorankamen, hielten die beiden Kyrinin im Schatten eines überhängenden Baumes inne. Die drei Menschen sanken zu Boden und streckten sich aus. Orisian war nicht sicher, ob er es noch einmal schaffen würde, sich zu erheben. Als er in die Baumkrone starrte, flatterte Idrin in sein Blickfeld und ließ sich auf einem Ast nieder. Der große schwarze Vogel hielt den Kopf schräg und starrte auf die völlig ausgelaugten Gestalten herunter. Orisian schloss die Augen.
»Eine Stunde, nicht länger«, hörte er Varryn sagen.
Es war kein Schlaf, der Orisian überkam, sondern eine Art Benommenheit. Sein Verstand vernebelte sich, und er hatte das Gefühl, in einem Fluss zu treiben, der ihn sanft wiegte. Die Zeit glitt dahin. Er hörte Idrin krächzen, und in seinem Traumzustand verwandelte sich der Laut in einen Ruf, der aus weiter Ferne zu ihm drang. Er glaubte, die Stimme seines Vaters zu vernehmen.
Es war Inurians Stöhnen, das ihn letzten Endes weckte. Er sah sich um. Anyara lag ausgestreckt im Gras, die Augen fest geschlossen. Auch Rothe hatte die Müdigkeit übermannt; die breite Brust seines Leibwächters hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus tiefen Schlafs. Inurian befand sich noch an der gleichen Stelle, an der sie ihn auf den Boden gebettet hatten. Wirre, unverständliche Laute drangen aus seinem halb geöffneten Mund. Aber es war Ess’yr, die Orisians Aufmerksamkeit fesselte. Wieder beugte sie sich über Inurian und beobachtete angespannt seine Züge. Sanft flüsternd strich sie ihm über die Stirn. Dann schaute sie auf und begegnete Orisians Blick. Sie redete weiter leise auf den Na’kyrim ein. In ihren Augen war kein Vorwurf zu erkennen, und doch empfand Orisian plötzlich Verlegenheit. Er wandte sich beschämt ab. Zwischen Inurian und Ess’yr bestand eine Verbindung, die keine Beobachter duldete.
Als Orisian erneut erwachte, benebelt und frierend, wusste er anfangs nicht, wo er sich befand. Er überlegte, weshalb ein Wolkenhimmel über ihm war und nicht das Mauerwerk von Kolglas und weshalb er auf hartem Boden anstatt in seinem Bett lag. Die Erinnerung kehrte zurück, als er sich mit schmerzenden Gliedern
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