Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
diesen hatte die Stadt einst sicherlich einen herrlichen Anblick geboten, eingebettet in die großartige Bergwelt und überwölbt von einem weiten blauen Himmel. Wer immer ihre Bewohner gewesen waren, die wundersame Verschwörung von Himmel und Felsen musste sie zutiefst bewegt haben.
Rothe kauerte neben Orisian und versuchte sein Schwert mit einem Wetzstein zu schärfen, den Yvane ihm besorgt hatte. Seine Arbeit wurde von leisen Flüchen begleitet, die der Unzulänglichkeit des kleinen Steins galten. Varryn und Ess’yr hatten sich in die Tiefe begeben und durchsuchten vorsichtig die Ruinen in der näheren Umgebung. Während der langen Stunden, die sie in der Höhle verbracht hatten, war von Eindringlingen nichts zu sehen oder zu hören gewesen, aber die beiden Kyrinin schien das nicht zu beruhigen. Trotz ihrer Zurückhaltung und Beherrschung hatte Orisian den Eindruck, dass sie diesen Ort so rasch wie möglich verlassen wollten. Die einzige ungeklärte Frage lautete, ob Yvane sie begleiten würde. Die Na’kyrim hatte das Versteck vor geraumer Zeit verlassen und versprochen, Proviant für ihre Reise zu besorgen.
Anyara trat neben Orisian.
»Ein merkwürdiger Ort«, sagte sie.
Er nickte. »Ich wollte, Inurian wäre bei uns. Er hätte uns mehr darüber erzählen können.«
»Ja«, sagte Anyara leise und schaute auf ihre lose verschränkten Hände hinunter. »Er fehlt mir sehr. Ich habe zwar nie so viel Zeit mit ihm verbracht wie du, aber nach dem Winterfest … versuchte er mich zu beschützen, so gut er konnte.«
»Das tat er immer«, meinte Orisian. »Er beschützte uns alle, wenngleich auf unterschiedliche Weise – dich, Vater, mich. Du glaubst immer zu wissen, was dir eine bestimmte Person bedeutet, aber eigentlich weißt du es erst, wenn sie nicht mehr gibt.« Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich hatte das Gefühl, ihn gut zu kennen. Aber nun, da ständig neue Stationen aus seinem Leben auftauchen – Ess’yr, Highfast, Yvane –, erscheint er mir fremder als noch vor geraumer Zeit.«
»Du weißt das Wichtigste über ihn. Dass er dich gern hatte. Dass er uns alle gern hatte.«
Orisian kniff die Augen zusammen und starrte in die Ferne.
»Er sagte mir einmal, dass es unklug sei, sich Dinge zu wünschen, die unerfüllbar sind. Aber wie soll ich diesen Rat befolgen? Ich möchte am liebsten alles ungeschehen machen. Alles, bis hin zu … Unser Vater fehlt mir. Ich sähe ihn gern wieder. So wie er war, als alle noch lebten. Ist es denn schlimm, sich so etwas zu wünschen?«
Anyara legte ihm einen Arm um die Schultern. Die Trauer war ein gefährliches Gebiet, das sie am besten nicht gemeinsam betraten. Orisian befürchtete immer, dass die Dämme brechen könnten, wenn er oder Anyara zu viel von dem Kummer zeigte, den sie mit sich herumtrugen.
»Ich habe Angst, Orisian.«
Er konnte sich nicht entsinnen, diesen Satz jemals von ihr gehört zu haben. Das Fieber hatte sie bis an den Rand des Dunklen Schlafs gebracht; einmal wäre sie um ein Haar im Hafen von Kolglas ertrunken; und noch früher war sie bei einem Ausflug ins Grüne von einem hohen Baum gestürzt. Aber nie hatte sie von Angst gesprochen. Dass Furcht seiner Schwester nicht das Geringste anhaben konnte, war für ihn seit seiner Kindheit eine Tatsache gewesen, so ähnlich wie die Erkenntnis, dass die Bäume im Herbst ihr Laub abwarfen. Nun wurde diese Gewissheit offenbar wie so vieles andere als naiver Kinderglaube entlarvt.
»Angst wovor?«, fragte er.
Anyara lachte gepresst. »Du hast die Wahl!« Sie schwieg eine kurze Weile. »Vor dem Sterben. Vor dem Alleinsein. Du, ich, Rothe – wir sind jetzt völlig aufeinander angewiesen.«
»Und wir werden zusammenbleiben. Aber es gibt sicher noch mehr von uns. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Du sprichst wie ein echter Than«, stellte Anyara fest. Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge, als er sie scharf ansah. »Nun, du bist jetzt der Than, oder?«
»Hoffentlich nicht, Anyara.«
Sie zog ihn an sich, wieder ganz die fürsorgliche ältere Schwester.
»Wenn du es bist, dann wirst du ein guter Herrscher sein«, sagte sie.
Er löste sich aus ihren Armen. »Gut oder schlecht, ich werde das Amt übernehmen müssen. Alle meine Wünsche sind und bleiben Wünsche. Ich wollte das nicht – keiner von uns wollte das –, aber hier sind wir nun. Wenn es sonst niemanden gibt, muss ich das Amt übernehmen.«
Sie ergriff seine Hand, und gemeinsam standen sie eine Weile auf dem
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