Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Dünne Wolkenstränge erschienen in der blauen Weite des Himmels, und als es Zeit wurde, sich nach einem geeigneten Lagerplatz umzusehen, versank der Car Criagar wieder in dem gedämpften Grau, das er geradezu anzuziehen schien. Aber wenigstens regnete und schneite es nicht, und als Yvane ihnen eine enge Höhle in der Bergflanke zeigte, konnten sie hoffen, eine angenehmere Nacht zu verbringen als an manchen anderen Schlafplätzen der jüngsten Zeit.
Yvane wusste, was sie tat, als sie gerade diese Höhle wählte. Sie schob einen Arm in den Spalt unter einem verwitterten Felsblock und holte einen Sack mit Anmachspänen und Feuerholz hervor.
»Besser kein Feuer!«, mahnte Varryn.
Yvane leerte den Sack aus und schichtete das Holz auf.
»Du kannst frieren, wenn du willst«, entgegnete sie. »Aber ich hasse die Kälte. Wenn unsere Verfolger noch nicht aufgegeben haben, dann wissen sie, wo wir sind, mit oder ohne Feuer.«
Danach wurde wenig geredet. Alle waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, während sie ins Feuer starrten und die Nacht so nahe rückte, dass sie ihre Welt auf einen winzigen Lichtkreis einengte.
Der Laut kam, als sie sich zum Schlafen niederlegten, erschreckend wie das Klirren von Glas, das in der Dunkelheit zerbrach. Ein kurzes Heulen – und Sekunden später die Antwort. Beide Hunde schienen weit entfernt zu sein, aber das ließ sich schwer abschätzen.
»Vielleicht sind wir noch froh um das Feuer.« Das war alles, was Yvane sagte, während das Geheul verklang und sich eine zermürbende Stille über sie senkte.
Orisians letzter Eindruck, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel, war Varryn, der hoch aufgerichtet im Schein des Feuers dasaß und in die Nacht hinaushorchte, in einer Hand den Speer, in der anderen den Bogen.
Als sei die Zeit stehen geblieben, saß Varryn am nächsten Morgen immer noch so da, wie ihn Orisian zuletzt gesehen hatte. Das schlechte Wetter hatte sie erreicht. Yvane wechselte mit Varryn einige Worte in der Sprache der Füchse, ohne die anderen in ihr Gespräch einzubeziehen. Zu einer anderen Zeit hätte Orisian wohl gefragt, worüber sie diskutierten. Jetzt aber erschien es ihm sinnlos. Sie hatten schließlich keine andere Wahl, als ihren Weg fortzusetzen, selbst wenn ein Dutzend Inkallim ihren Spuren folgte.
Sie schritten nun abwärts und ließen die höchsten Gipfel hinter sich, aber der Car Criagar entließ sie nicht, ohne sie noch einmal an seine wahre Natur zu erinnern. Tief hängende Wolken, ein scharfer Wind und Schneeregen begleiteten sie. Je weiter sie nach Norden vordrangen und sich vom Herzen des Gebirgsmassivs entfernten, desto langweiliger wurden die Hänge. Die dramatischen Felsformen und Geröllhalden der Höhen wichen eintönigen Schneefeldern.
Orisian stapfte neben Yvane her.
»Wie lange dauert es noch, bis wir in Koldihrve sind?«, fragte er sie. Es strengte an, sich durch den immer tieferen Schnee zu kämpfen, und er war außer Atem, aber das unerbittliche Schweigen der Berge bedrückte ihn allmählich.
»Nicht mehr lange«, erwiderte die Na’kyrim .
»Das ist eine Kyrinin-Antwort«, stellte Orisian fest.
»Wohin wollt ihr überhaupt? Nachdem ihr Koldihrve erreicht habt, meine ich. Was habt ihr vor?«
»Unser Ziel ist Glasbridge oder Kolglas, falls wir in Koldihrve ein Boot auftreiben können«, sagte Orisian. »Ich muss den Kampf gegen den Schwarzen Pfad aufnehmen, unser Haus wieder an die Macht bringen. Ich bin es leid, ständig zu fliehen und mich zu verstecken.« Und die Menschen zu verlieren, die ich liebe, dachte er.
»Pass auf, dass du die Rache nicht in schönere Gewänder kleidest, als sie verdient. Man kann das Verlorene nicht immer zurückholen. Ich würde es nicht versuchen, wenn ich du wäre. Enttäuschungen bewirken bei den Menschen oft seltsame Veränderungen.«
»Das versteht Ihr nicht. Der Schwarze Pfad hat meine Familie, meine Heimat vernichtet. Er hat unsere Ländereien geraubt. Ich habe geschworen, unser Geschlecht gegen seine Feinde zu verteidigen.«
»Und wer, glaubst du, wacht darüber, dass du diesen Schwur einhältst?«, fragte Yvane gereizt. »Es gibt keine Götter mehr auf dieser Welt, wenn es je welche gab. Also können sie auch nicht über dich richten. Oder fürchtest du die Toten? Das kannst du getrost den Kyrinin überlassen. Was wirst du tun, wenn du alle jene umgebracht hast, die deine Toten auf dem Gewissen haben? Dich zurücklehnen und darauf warten, bis eines Nachts wiederum die Kinder deiner Opfer
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