Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
ansehnlicher Teil der verbotenen Gewinne, die Schmuggler, Diebe, Wucherer und Auftragsmörder im gesamten Herrschaftsgebiet von Haig machten, sickerte durch heimliche Kanäle in seine Taschen. Er war die Spinne im Mittelpunkt eines weit gespannten, nahezu unsichtbaren Netzes, eine Spinne, die vom Verschlingen ihrer Beute fett geworden war.
Allein betrat der Kanzler das Gemach, in dem Torquentine auf einem Berg von Kissen ruhte. Der Mann war ein Koloss. Seine weiten Gewänder verbargen einen Leib, der vermutlich das Dreifache eines gewöhnlichen Körpers wog. Das Gesicht ging mit Speckwülsten in den Hals über. Ein Auge hatte er verloren; von der Schläfe zog sich eine ausgefranste Narbe schräg über die leere Höhle bis zur Nase. Das andere Auge starrte dem Kanzler hellwach entgegen. Mordyn dachte oft, dass Torquentines Umfang zumindest einen Zweck erfüllte. Viele Leute gingen davon aus, dass ein solcher Fettwanst nur schwach oder verblödet sein konnte. Und diese irrige Annahme wurde Torquentines Verhandlungspartnern oft zum Verhängnis. Denn der Kanzler war sich ziemlich sicher, dass es in Vaymouth kaum einen gerisseneren Mann gab als Torquentine.
»Die Schattenhand«, sagte Torquentine heiser. »Ein unerwartetes Vergnügen. Es ist eine Weile her, seit der Kanzler persönlich mich mit seinem Besuch beehrte.«
»Über ein Jahr«, bestätigte Mordyn und nahm auf einer makellos gepolsterten Bank Platz – dem einzigen Möbelstück im ganzen Raum. Kleine Schalen mit wohlriechenden Kräutern und Blütenblättern standen neben ihm. Ihr Duft vermischte sich mit dem Rauch der flackernden Öllampen. Dennoch vermochten sie nicht ganz die schlechte Luft zu verdrängen, die im Zimmer herrschte. Der Kanzler warf einen fragenden Blick auf den Bezug der Sitzbank.
»Neu?«
»In der Tat«, krächzte sein Gastgeber. »Ich hatte mich an dem vorherigen Muster abgesehen. Und der Stoff war von den Hinterteilen der vielen Beter reichlich verwetzt.«
»Das klingt nach den Tempeln, die wir vor langer Zeit abgeschafft haben«, meinte Mordyn.
»Dann eben Bittsteller, wenn Euch das lieber ist.« Torquentine lächelte. »Aber wir Menschen brauchen nun einmal einen Ersatz für die Götter, die uns verlassen haben. Es liegt in unserer Natur, aus den seltsamsten Orten Tempel zu machen.«
»Auch wenn wir uns dort nicht vor Göttern, sondern vor Sterblichen erniedrigen«, pflichtete ihm Mordyn bei. »Aber ich hoffe doch sehr, dass ich in Eurer Gunst höher stehe als ein bloßer Beter vor einem Altar.«
»Ach ja, die Gunst. Es ziemt sich nicht für einen Mann, diese Kostbarkeit allzu freigebig zu verteilen. Aber was hättet Ihr schon von meiner bescheidenen Gunst, hochverehrter Kanzler? Sollte Euer Herz einst alt werden, wird es sicher durch die Liebe der Edlen und Mächtigen erwärmt. Immerhin kann es sein, dass ich die neue Polsterung meiner Bank mit Eurem Gold bezahlte. Ihr dürft sie daher so grob behandeln, wie Ihr nur wollt.«
»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Mordyn. »Es gibt nur einen Punkt, den ich mit Euch besprechen möchte.«
Torquentine hob übertrieben bekümmert einen seiner fetten Arme. »Immer diese Eile! Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, Euch eine Erfrischung anzubieten.«
Mordyn unterdrückte ein Lächeln. Torquentine hörte sich gern selbst reden und spielte den Narren recht überzeugend.
»Ich habe eine kleine Aufgabe für Euch, Torquentine. Nichts allzu Schwieriges für einen Mann mit Euren Fähigkeiten.«
»Da bin ich aber gespannt«, entgegnete Torquentine mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Gann nan Dargannan-Haig. Ein Vetter von Igryn. Kennt Ihr ihn?«
»Nicht persönlich, auch wenn ich viel von ihm gehört habe. Ein Hohlkopf wie die meisten Mitglieder dieser Familie. Eine Maus mit dem Ehrgeiz einer Ratte. Säuft und hurt zu viel und hat sich alles an Krankheiten geholt, was man bei diesem Lebenswandel kriegen kann. Bildet sich ein, er hätte das Zeug zu einem Than, weil er nicht merkt, dass ihn die Goldschmiede nur als Werkzeug benutzen. Aber das wisst Ihr sicher alles, Kanzler.«
Mordyn nickte. »Dennoch danke ich Euch für die treffende Zusammenfassung. Ich möchte ihm die Gelegenheit geben, sein sinnloses Leben durch einen nützlichen Tod ein wenig aufzuwerten. Es liegt mir fern, Euch in Euer Geschäft dreinzureden, aber was haltet Ihr von einer Wirtshausschlägerei? Oder von einem frühen Ableben durch die übermäßig genossenen Freuden in einem Bordell?«
Torquentines gesundes Auge
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