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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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längst tot.«
    Sie versanken in Schweigen. Anyara wusste, dass Orisian meist ein gutes Urteilsvermögen besaß. Ein Mädchen, das in einer Männerwelt aufwuchs, lernte allerhand, wenn es seine Umgebung scharf beobachtete; und genau das hatte Anyara immer getan. Sie fragte sich, ob Orisian bewusst war, wie er Ess’yr bisweilen anschaute. Vielleicht merkte er gar nicht, dass er sie mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit verfolgte, die Anyara sofort richtig deutete. In den letzten zwei oder drei Jahren war sie selbst hier und da Männern begegnet, die sie ähnlich betrachtet hatten.
    Bei ihrem Bruder allerdings waren diese Blicke neu. Seine Bewunderung für Jienna, die Kaufmannstochter aus Kolglas, war peinlich unverhohlen gewesen, aber nicht über eine allgemeine Schwärmerei hinausgegangen. Die Gefühle, die er für Ess’yr hegte, hatten dagegen nichts Kindliches mehr an sich. Für die meisten Menschen galt eine derartige Beziehung von vornherein als undenkbar, aber das beunruhigte Anyara weniger als die Angst, ihren Bruder leiden zu sehen. Ess’yr lebte zu weit weg von seiner Welt. Und sie war Inurians Geliebte gewesen. Das war ein Fluss mit gefährlichen Strömungen; sie hoffte, dass Orisian die Vernunft besaß, nicht in einem solchen Gewässer schwimmen zu wollen.
    Sie nahm Zeichen der Veränderung an ihrem Bruder wahr. Orisian hatte schon immer weiter gedacht und eine größere Vorstellungskraft besessen als sie. Aber sie war seit dem Tod der Mutter und des älteren Bruders die Starke gewesen, zumindest nach außen hin. Und in den Jahren davor hatte Fariels Stern am hellsten gestrahlt. Nun forderten die Ereignisse etwas Neues von Orisian; vielleicht traten dadurch lange überschattete Eigenschaften seines Wesens stärker in den Vordergrund. Er konnte eines Tages ein guter Than werden – wenn er diese Zeit der Wirren überlebte. Dennoch sah Anyara in ihm immer noch den Jungen, mit dem sie die Treppen von Kolglas hinauf- und hinabgetollt war, und sie hatte ihre Zweifel, ob dieser Junge Ess’yr in das Flechtwerk seines Lebens einfügen konnte.

    Varryn holte sie etwa eine Stunde später ab. Wortlos bedeutete er ihnen, ihm in die Mitte des Vo’an zu folgen. Dort, auf einem freien, von schädelgeschmückten Pfählen gesäumten Platz, kniete Ess’yr. Neben ihr befand sich ein bizarres Riesengesicht, das aus Weidenzweigen geflochten war.
    »Das ist ein Seelenfänger«, murmelte Orisian, als er Anyaras fragende Blicke bemerkte. »Ein Abbild der Anain. Sie glauben, dass es sie vor den Toten beschützt.«
    Anyara wirkte beunruhigt. Die Tatsache, dass die Kyrinin so unheimliche Geschöpfe wie die Anain anriefen, brachte ihr überdeutlich die Kluft zwischen den beiden Rassen zum Bewusstsein.
    »Bleibt hier stehen!«, befahl Varryn.
    Ohne weitere Erklärung verließ er sie und kniete neben seiner Schwester nieder. Er nahm eine Schale aus Tierhaut auf, die eine dunkle, zähe Flüssigkeit enthielt. Ess’yr hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war entspannt, fast wie im Schlaf. Varryn tauchte die Spitze einer langen, dünnen Nadel in die Schale und schwenkte die Flüssigkeit, bis sich das Werkzeug vollgesogen hatte.
    Anyara runzelte verwirrt die Stirn.
    »Das Kin’thyn «, erklärte Orisian. »Sie hat ihren ersten Feind getötet.«
    Anyara verzog das Gesicht, als Varryn die Schale absetzte und sich über seine Schwester beugte, die mit Farbe bedeckte Nadel zum Einstechen bereit.
    »Er tätowiert sie?«, fragte sie fast ungläubig.
    Ess’yr zuckte kein einziges Mal, als ihr die Nadel in die Haut eindrang. Varryn stach Spiralen, Punkt für Punkt. Winzige Blut- und Farbspuren markierten sein Werk. Allmählich nahm das Muster Gestalt an. Der Vorgang hatte etwas entsetzlich Faszinierendes an sich. Die Haig-Geschlechter hätten nie und nimmer zugelassen, dass eine Frau so verunstaltet wurde – aber hier galt die Tätowierung als große Ehre. Anyara fragte sich, wie Orisian es wohl aufnahm, dass Ess’yrs makellose Haut so entstellt wurde. Als sie ihm einen Blick zuwarf, sah sie einen solchen Ausdruck der Verzückung auf seinen Zügen, dass sie unsicher wurde. Allem Anschein nach betrachtete er die Tätowierung keineswegs als Verunstaltung.
    Das Ganze dauerte eine knappe Stunde. Varryns Hand stockte kein einziges Mal. Ess’yr ließ die Augen geschlossen und gab keinen Laut von sich. Das Blut floss, die Wirbel und Spiralen des Kin’thyn breiteten sich auf der Haut aus. Kyrinin kamen vorbei und schauten eine Weile zu,

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