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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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jetzt. Sie braucht Ruhe.«
    »Es ist wichtig«, beharrte Anyara. »Ich glaube, sie wird mich empfangen.«
    Varryn rührte sich nicht von der Stelle. Er erinnerte Anyara an die Schildträger, die einen Than bei großen Zeremonien flankierten, erstarrt in der Wichtigkeit ihrer Rolle. Sie wollte ihm die Schnur nicht zeigen – sie glaubte, dass auch Inurian sie Ess’yr allein überreicht hätte –, aber es schien die einzige Möglichkeit, sich Einlass zu verschaffen. So öffnete sie kurz die Faust und zeigte ihm die zusammengerollte Schnur.
    »Inurian gab sie mir«, sagte sie. »Ess’yr sollte sie bekommen.«
    Für einen flüchtigen Augenblick entdeckte sie eine Regung in Varryns Zügen. Er war ihr zu fremdartig, als dass sie die kurze Veränderung richtig deuten konnte. Vielleicht Ärger, vielleicht Schmerz. Er starrte die Schnur kurz an und wandte dann den Blick ab. Als sie Luft holte, um ihre Bitte noch einmal vorzubringen, trat er zur Seite. Ein sanfter Stoß von Yvane sagte ihr, dass sie nicht erst auf eine Einladung warten solle. Sie duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen hindurch.
    Im Innern herrschte Dämmerlicht. Graue Federn hingen von den Holzbalken, die den Rahmen der Hütte bildeten. Tierhäute und dunkle Felle bedeckten den Boden, auf dem ein Lager für Ess’yr bereitet war. Anyara kauerte neben ihr nieder. Obwohl die trübe Beleuchtung das Schlimmste verbarg, waren die Spiralmuster und die entzündete Haut der Kyrinin gut zu erkennen. Ess’yrs graue Augen starrten sie aus einem verschwollenen Gesicht an.
    Anyara hielt ihr die Knotenschnur entgegen.
    »Inurian gab sie mir«, sagte sie. »Orisian dachte … ich dachte, es sei das Beste, wenn du sie nimmst. Um … um sie zu begraben.«
    Ess’yr setzte sich vorsichtig auf, eine Hand gegen die gebrochenen Rippen gepresst. Sie nahm die Schnur, ohne sie anzuschauen, und umschloss sie mit der Faust.
    »Danke«, sagte sie so leise, dass Anyara sie fast nicht verstand.
    Eine Menge Ungesagtes stand zwischen ihnen. Anyara entdeckte keine Regung in Ess’yrs Gesicht, aber die Knöchel der Kyrinin waren weiß, und ihre hellen Fingernägel gruben sich tief in den Handballen. Anyara wünschte sich insgeheim, dass ihr diese Frau weniger fremd wäre – dass sie mehr gemeinsam hätten als die Trauer um Inurian. Einige Herzschläge lang zögerte sie, dann stand sie auf und wandte sich zum Gehen. Als sie den Ausgang erreicht hatte, kam ihr ein Gedanke.
    »Könnte Orisian dich begleiten? Wenn du die Schnur vergräbst, meine ich. Inurian bedeutete auch ihm sehr viel. Es könnte ihm helfen.«
    Ess’yr schaute auf. Kyrinin- und Huanin-Blicke trafen sich, und ein Hauch von Verstehen wanderte zwischen den beiden jungen Frauen hin und her.
    »Nein«, sagte Ess’yr dann. »Es ist nicht … erlaubt. Für Huanin.«
    Anyara nickte und trat ins helle Tageslicht hinaus.
    »Es tut mir leid«, glaubte sie noch zu hören.

    »Danke, dass du gefragt hast.« Mehr sagte Orisian nicht, nachdem sie ihm von der Begegnung erzählt hatte. Dass Ess’yr Anyaras Vorschlag abgelehnt hatte, schien ihn weder zu erstaunen noch zu kränken. Vielleicht war ihm diese Antwort verständlich, weil er länger unter den Kyrinin gelebt hatte als sie.
    Yvane blieb bei ihnen. Sie saß mit überkreuzten Beinen vor der Hütte und besserte den Saum ihrer Jacke mit Nähzeug aus, das sie sich von ihren Gastgebern geliehen hatte. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie kaum darauf achtete, was Anyara und die anderen taten. Orisian wirkte niedergeschlagen. Anyara hielt es für das Beste, ihn in Ruhe zu lassen, und zog sich in die Hütte zurück, um ein wenig zu schlafen.
    Als sie aufwachte, fühlte sie sich besser als seit Tagen. Orisian und Rothe hielten draußen auf der Plattform eine Fechtübung mit Stöcken ab. Wieder hatte sich eine Schar von Kyrinin-Kindern eingefunden, um das seltsame Schauspiel zu beobachten. Yvane schaute ebenfalls zu. Die Na’kyrim hatte jene leicht spöttische Miene aufgesetzt, die nach Anyaras Geschmack etwas zu häufig auf ihren Zügen zu sehen war.
    Orisian legte sich mächtig ins Zeug. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Anyara wusste, wie schwer sich ihr Bruder tat, wenn es ums Kämpfen ging. Nun aber spürte sie eine Konzentration in seiner Körperarbeit, die sie vor der Winterwende nie bei ihm bemerkt hatte.
    Das Scheingefecht endete, und Rothe klopfte seinem Schützling auf die Schulter.
    »Gut«, lobte der Leibwächter. »Besser zumindest. Was ist mit der

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