Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
blieben aber selten lange stehen. Selbst die Kinder, die sich auf dem Platz versammelt hatten, kehrten nach einiger Zeit zu ihren Spielen zurück. Schließlich legte Varryn Schale und Nadel beiseite und ließ sich auf die Fersen sinken. Er nahm ein Tuch und tupfte Ess’yrs Gesicht vorsichtig ab.
Ess’yr schlug die Augen auf. Sie nickte ihrem Bruder kurz zu und erhob sich. Ihre Blicke wanderten zu Orisian, Anyara und Rothe.
»Ich danke euch«, sagte sie.
»Weshalb?«, wollte Orisian wissen.
»Ihr habt mich zum Kin’thyn geführt.«
Immer noch rieselte Blut aus den unzähligen feinen Stichen in ihrem Gesicht. Sie sah aus, als habe sie jemand in einem Kampf übel zugerichtet. Anyara hätte sich am liebsten abgewandt. Stattdessen wandte sich Ess’yr ab und verließ den Platz, dicht gefolgt von Varryn. Orisian starrte den Geschwistern nach.
»Da könnt ihr euch aber glücklich schätzen«, sagte Yvane hinter ihnen, eine Spur lauter als notwendig. Alle drei zuckten zusammen.
»Wie lange seid Ihr schon hier?«, fragte Anyara, als Yvane selbstgefällig lächelte.
»Ach, noch nicht lange. Und ihr könnt euch wirklich glücklich schätzen. Huanin werden heutzutage nur noch selten Zeugen, wenn jemand sein Kin’thyn erhält. Eine große Ehre, wenn ihr mich fragt.«
Anyara merkte, dass ihre Finger einen kleinen Gegenstand umschlossen, der sich in ihrer Tasche befand. Gewissensbisse erfassten sie, als sie merkte, was sie da in der Hand hielt. Vorsichtig zog sie die Knotenschnur hervor und warf einen Blick darauf.
Orisian achtete nicht weiter auf sie – ganz im Gegensatz zu Yvane.
»Wie kommst du denn an dieses Ding da?«, fragte die Na’kyrim . Orisian wandte sich ihr zu.
»Ich hatte es ganz vergessen«, sagte Anyara. »Inurian gab es mir, nachdem uns die Flucht aus Anduran gelungen war. Er bat mich …«
»… er bat dich, die Schnur in der Erde zu vergraben«, beendete Orisian den Satz für sie.
»Es tut mir leid«, räumte Anyara ein. »Ich hatte es wirklich vergessen.«
Orisian schüttelte kaum merklich den Kopf und nahm die Schnur zwischen Zeigefinger und Daumen. Seine Miene verriet nichts, während er einen der Knoten drehte.
»Das … das ist Brauch bei den Kyrinin«, erklärte er, »wenn sie befürchten, dass ihr Leichnam nicht bestattet werden kann, wie es sich geziemt.«
Er hob die Schnur hoch und sah Anyara an.
»Es ist sein Leben. Jeder Knoten ist ein Abschnitt seines Lebens.«
»Woher weißt du das?«, fragte Anyara ruhig.
»Ess’yr und ihr Bruder fertigten solche Schnüre an, bevor wir ihr Lager verließen.«
»Findest du, dass wir sie vergraben sollten?«
Orisian antwortete nicht sofort. Er hielt die Schnur wie ein kostbares Schmuckstück hoch. Seine Miene erinnerte Anyara an ihren Vater, auch wenn sie den Grund dafür nicht hätte sagen können.
»Wir sollten sie Ess’yr geben«, schlug Orisian ruhig vor. »Ich glaube, die Schnur ist für sie bestimmt. Sie weiß sicherlich, was damit zu geschehen hat.«
»Er dachte bestimmt an dich, als er einige dieser Knoten schlang«, sagte Yvane zu ihm. Zum ersten Mal war ihr Tonfall sanft und ihre Wortwahl rücksichtsvoll. »Solche Knoten können für Ereignisse oder Gefühle stehen. Oder für Personen. Ich bin sicher, dass du eng mit seinem Leben verwoben warst.«
»Vielleicht. Ich wüsste gern, was sie alle bedeuten.« Er hielt die Schnur an einem Ende hoch und ließ sie hin und her schwingen.
»Er hätte es dir nicht verraten, auch wenn er am Leben geblieben wäre«, erklärte Yvane. »Es ist eine sehr intime Sache – ein Gespräch mit dem Tod.«
»Ich bringe sie zu Ess’yr«, sagte Orisian.
»Nein.« Yvanes Stimme klang immer noch ruhig, aber sehr entschieden. »Er gab sie Anyara. Das spielt bei solchen Ritualen eine wichtige Rolle. Deine Schwester muss mit Ess’yr sprechen, wenn sie der Meinung ist, dass die Kyrinin-Frau die Schnur der Erde übergeben sollte.«
Anyara nahm die Knotenschnur von Orisian entgegen und rollte sie ordentlich zusammen.
»Zeigt Ihr mir, wo sich Ess’yr befindet?«, bat sie Yvane, und die Na’kyrim nickte.
Sie gingen schweigend durch das Vo’an . Es war nicht weit. Varryn stand vor einer niedrigen Hütte. Er sah sie näher kommen, gab den Eingang aber nicht frei.
»Bleib höflich!«, raunte Yvane hinter unauffällig vorgehaltener Hand.
»Varryn, ist Ess’yr hier?«, fragte Anyara.
»Sie braucht Ruhe«, entgegnete der Krieger.
»Kann ich kurz mit ihr sprechen? Ich habe etwas für sie.«
»Nicht
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