Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
zu ihm gehen.«
»Ja, das solltest du«, pflichtete ihm Inurian bei. »Es wird ihn freuen. Vergiss nie, dass er dich liebt, Orisian. Manchmal mag er es selbst vergessen, aber der gesunde Kennet liebt dich von ganzem Herzen. Du weißt, dass gerade ich mich in diesem Punkt nicht täusche.«
Wenn Inurian das sagte, war es eine unumstößliche Tatsache. Niemand konnte seine innersten Gefühle vor einem Na’kyrim verbergen, der die Gabe besaß, in die Herzen der Menschen zu schauen.
»Du hast recht«, entgegnete Orisian. »Aber manchmal fällt es mir schwer, daran zu glauben.«
»Komm zu mir, wenn du Zweifel spürst.« Inurian lächelte sanft.
»Das tue ich doch immer, oder?«
»Willst du, dass ich dich begleite?«, fragte Inurian.
Orisian war drauf und dran, der Versuchung nachzugeben, dann aber schüttelte er entschlossen den Kopf. Diese Last mussten er und sein Vater allein tragen. Er konnte sie nicht auf fremde Schultern abwälzen, auch nicht auf Inurian, der gewillt war, ihm zu helfen, so gut er konnte.
Vor den Gemächern seines Vaters blieb er stehen. Die Tür hier hütete, anders als bei Inurian, keine Geheimnisse. Sie war alt und reich mit geschnitzten Efeuranken verziert. Die Fackeln entlang der Wendeltreppe hatten das Holz im Lauf der Zeit geschwärzt, und für Orisian strahlte sie stets etwas düster Bedrohliches aus. Als er eine Hand flach gegen die Füllung presste, spürte er die Maserung unter den Fingerspitzen. Das Holz war kalt.
Ein eisiger Luftzug wehte ihm entgegen, als er eintrat. Ein Fenster stand weit offen. Der Raum selbst lag im Halbdunkel, und der einzige Laut, der ihm ans Ohr drang, war das Rauschen des Meers, das von draußen hereindrang. Sein Vater ruhte in dem großen Bett am anderen Ende des Zimmers, die Hände schlaff auf der Decke, den Kopf mit dem grauen Haar von Kissen gestützt. Kennet schien zu schlafen. Der Kummer hatte ihm tiefe Falten in das Gesicht gegraben, und dunkle Schatten umgaben seine Augen. Er war in der letzten Zeit um mindestens zehn Jahre gealtert.
Orisians ältere Schwester Anyara, die an seinem Bett saß, schaute auf, als er hereinkam. Er sah, dass sie erschöpft war. Ihre langen rotbraunen Locken hatten jeden Glanz verloren. Sie legte einen Finger auf die Lippen und artikulierte: »Er schläft.«
Orisian zögerte auf halbem Weg zwischen Tür und Bett. Er hätte umkehren können, durch den Schlummer seines Vaters erst einmal seiner Pflicht enthoben. Stattdessen trat er ans Fenster, um es zu schließen. Kennet rührte sich, als er seine Schritte hörte.
»Lass es offen!«
»Ich finde es ziemlich kalt hier drinnen«, sagte Orisian. Die Augen seines Vaters waren leer und gerötet.
»Mir tut das gut.«
Orisian trat neben Anyara.
»Du bist also wieder daheim«, sagte Kennet.
»Seit einer knappen Stunde.«
Kennet brummte etwas. Das Sprechen schien ihn anzustrengen. Seine Lider flatterten und schlossen sich wieder. Anyara schaute zu Orisian auf und legte ihm eine Hand leicht auf den Arm.
»Croesan lässt dich grüßen«, fuhr Orisian fort. »Er wünscht dir gute Besserung und hofft, dass du ihn bald einmal besuchst. Ich glaube, er würde dir gern zeigen, wie sehr Anduran aufblüht.«
»Ah«, ächzte Kennet, ohne die Augen zu öffnen.
»Denkst du, dass du zum Winterfest wieder wohlauf bist?«, erkundigte sich Orisian und merkte sogleich selbst, wie drängend und schroff seine Worte klangen. Aber was sollte er sagen, um den Vater zu erreichen, den er von früher in Erinnerung hatte und den er liebte?
Kennet wandte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. »Wann ist das?«, fragte er.
»Vater, wir haben erst heute Nachmittag darüber gesprochen«, entgegnete Anyara. »Winterwende ist übermorgen. Erinnerst du dich? Die Barden werden ihre Lieder und Geschichten vortragen. Und wir erwarten Akrobaten. Hast du das vergessen?«
Kennet starrte ins Leere, als weile er nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern bei Erinnerungen, die ihm deutlicher vor Augen standen als die Gegenwart.
»Inurian erzählte mir, die Akrobaten seien Herrenlose«, warf Orisian ein. Er wusste von sich selbst, dass die Erinnerung an vergangene Winterfeste ebenso viel Schmerz wie Wärme hervorrufen konnte. So war es oft, wenn er sich mit Anyara oder seinem Vater unterhielt: Die Gespräche schrammten an gefährlichen Abgründen entlang, und vieles blieb ungesagt. Aber selbst wenn man das Muster durchschaut hatte, ließ es sich nicht leicht durchbrechen.
Kennets Seufzer ging in einen trockenen
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