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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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ausging.
    Theors Unruhe entsprang eher einem gewissen Bedauern. Damals, als Ragnor in Kan Dredar den Thron bestieg, hatte der Bardenführer geglaubt, er würde sich zu einem guten Than entwickeln. In jenen Anfangsjahren hatte Ragnor den Eindruck erweckt, als gerate er ganz nach seinem Vater: pflichtbewusst, fest im Glauben und überzeugt davon, dass es oberstes Gebot sei, diesen Glauben zu fördern. Stattdessen war aus ihm ein ganz gewöhnlicher Herrscher geworden, den seine sinnlosen weltlichen Machtspiele voll in Anspruch nahmen. Und die Inkallim – alle, aber insbesondere Theor selbst – hatten versagt. Sie hatten zugelassen, dass der Verfall einsetzte. Gleich zu Beginn hätte man die Faulstelle mit einem winzigen Schnitt beseitigen können; nun benötigte man dazu ein scharfes Schwert. Trug er die Schuld daran, dass die Wachsamkeit der Barden nachgelassen hatte? Musste er sich Vorwürfe machen, dass es so weit gekommen war? Letzten Endes spielte es keine Rolle. Das Schicksal schrieb den Weg vor, den sie einschlugen. Aber es konnte nicht schaden, den Seinen abermals in Erinnerung zu rufen, dass der Glaube das Licht war, das allen Dingen den Weg wies. Wenn die Krieger-Inkallim nach Süden marschierten, würde er einen Trupp seiner Barden mitschicken.
    Das Prickeln der Seherwurz erfasste den Bereich hinter den Ohren und drang in die Schädelknochen ein. Er ließ den Kopf in die Kissen sinken und schloss die Augen. Umrisse bewegten sich an der Innenseite der Augenlider. Er zwang sich zur Ruhe, verdrängte alle Gedanken. Dann wartete er auf die Bilder.

    Taim Narran war nicht sicher, was auf der anderen Seite der massiven Eichentür zertrümmert wurde. Den Geräuschen nach zu urteilen, waren es größere Gegenstände. Aus Respekt vor Roaric nan Kilkry-Haigs Gefühlen – und, wenn er ehrlich war, vielleicht auch ein wenig aus Angst – trat er erst ein, als sich das Getöse gelegt hatte.
    Lheanors einziger überlebender Sohn, nun der Titelerbe, stand mitten in dem kleinen Raum. Zu Bruch gegangene Möbel lagen auf dem Steinfußboden verstreut. Ein vergessenes Stuhlbein hielt er noch in der Hand. Roaric hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Schultern und Arme hingen schlaff nach unten. Der Sohn des Thans war erst an diesem Morgen aus dem Süden zurückgekehrt. Er hatte noch weniger Kämpfer als Taim aus dem Krieg gegen Dargannan-Haig in die Heimat zurückgebracht. Bei der Nachricht vom Tod seines Bruders in der Schlacht von Grive wäre wohl auch ein Mann von weniger heftiger Gemütsart außer sich geraten.
    Roaric hatte Taims Anwesenheit noch nicht wahrgenommen. Er stand reglos da, verloren im betäubenden Nebel seines Schmerzes. Taim zögerte. Er wusste nicht, ob er dem jungen Mann seinen Beistand anbieten konnte und ob dieser Beistand willkommen war. Andererseits hatten sie in Gryvans Krieg Seite an Seite gekämpft, waren Freunde in einem Sturm von Feindseligkeit gewesen.
    »Roaric«, sagte er leise, und als keine Antwort kam, noch einmal lauter: »Roaric.«
    Der jüngere Mann schaute auf, mit trüben, leeren Augen. Seine Blicke wanderten über Taim hinweg zum Fenster.
    »Es tut mir leid«, murmelte Taim. »Ihr habt einen besseren Empfang verdient. Wir alle haben einen besseren Empfang verdient.«
    Roaric ließ das Stuhlbein aus den Fingern gleiten. Es polterte zu Boden. Er trat ans Fenster und stieß dabei unbewusst mit dem Fuß die Möbel beiseite, an denen er seinen Zorn ausgelassen hatte.
    »Das wird mir der Schwarze Pfad mit Strömen von Blut büßen«, raunte er mit belegter Stimme. Er stemmte die Hände gegen beide Seiten des Fensterrahmens und starrte über die Residenz seines Vaters hinweg. »Ich hätte hier sein sollen.«
    »Wir hätten beide hier sein sollen.«
    »Ich war so stolz, als mir mein Vater den Oberbefehl über die Heere gab, die in den Süden zogen. Stolz! Und nun seht Euch das an! Von den Kämpfern, die ich in den Krieg führte, sind alle bis auf ein paar hundert Mann tot. Mein Bruder ist tot. Kilkry und Lannis sind nur noch Schatten dessen, was sie einst waren. Wir bluten aus tausend kleinen Wunden, und unsere Kräfte schwinden immer mehr.«
    »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Taim.
    »Nein?«, fauchte Roaric. Er fuhr herum und starrte Taim wütend an. Der Gefühlsausbruch dauerte nur einen Augenblick lang. Als er Taims Miene sah, sank Roarics Zorn in sich zusammen. Er schüttelte nur den Kopf.
    »Wir werden Gelegenheit erhalten, das Geschehene zu erläutern«, erklärte Taim

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