Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
die in Kolkyre für Euch arbeitet. Einen Dolch nanntet Ihr sie, gezückt über dem Herzen Eures Feindes.«
Sie entblößte die Zähne zu einem Wolfslächeln.
»Ich erinnere mich gut. Aber ich bin erstaunt, dass Ihr noch daran denkt, Hüter der Mythen und Legenden.«
»Oh, je älter ich werde, desto mehr Dinge kommen mir wieder in den Sinn. Klingt abwegig, nicht wahr, aber so ist es nun einmal. Wenn wir nun jegliche Zurückhaltung aufgeben und uns ganz der Vorsehung ausliefern sollen, wäre es da nicht an der Zeit, diesen Dolch herabstoßen zu lassen?«
»Warum nicht?«, sagte Avenn. »Wenn es unser aller Wille ist …« Ihr Blick streifte Nyve von der Seite. »Dieser Tod würde unser Volk mit neuem Glauben erfüllen. Rollt erst einmal dieser Kopf, kann vermutlich niemand mehr dem Flächenbrand Einhalt gebieten, weder wir noch Ragnor oder Gryvan oc Haig.«
»Wir entscheiden nicht, was das Schicksal bringt, sondern wie wir ihm entgegentreten«, gab Theor zu bedenken. »Wenn geschrieben steht, dass unser Plan gelingen soll, dann wird er gelingen, ganz gleich, welche Gefahren oder Hindernisse uns den Weg zu verstellen scheinen. Ich unternehme nichts ohne Euer volles Einverständnis, aber ich finde, die Zeit ist reif.«
Nyve ließ die Hände wie ein zerknülltes Tuch in den Schoß sinken. »Die Krieger-Inkall wird in den Kampf ziehen.«
Die Entscheidung ist gefallen, dachte Theor. Ob zum Guten oder Bösen, wir werfen uns in die Waagschalen der Vorsehung. Wir gehen einer stürmischen Zukunft entgegen. »Dann sind wir uns also einig. Die Krieger-Inkall wird in den Kampf ziehen, ein Than wird sterben, und das Volk wird sich erheben. Möge alles geschehen, wie es geschrieben steht.«
»Wie es geschrieben steht.«
»Wie es geschrieben steht.«
Sie gingen, wie sie gekommen waren, einer nach dem anderen und jeder für sich. Avenn trat als Erste in das gleißende Tageslicht hinaus. Theor und Nyve sprachen kein Wort, bis sie verschwunden war, aber bevor der Führer der Krieger-Inkall ihr aus dem Rundsaal folgte, legte ihm Theor eine Hand auf die Schulter und ließ sie dort eine Weile ruhen.
Theor zog sich an diesem Abend früh in seine Gemächer zurück. Er schickte seine Diener weg und kleidete sich für die Nacht um. Dann öffnete er das geschnitzte Kästchen auf seinem Nachttisch und entnahm ihm einen kleinen Stängel Seherwurz. Seine Lippen, die sich im Lauf der Jahre von dem Kraut dunkel verfärbt hatten, kribbelten schwach in Erwartung der Droge. Er legte sich nieder, schob den Stängel in den Mund und begann ihn vorsichtig mit den Zähnen zu bearbeiten und auszudrücken, ohne ihn ganz zu zerkauen. Die dunklen Säfte quollen heraus, und die vertraute, beruhigende Taubheit breitete sich auf der Zunge und den Lippen aus. Langsam, ganz langsam würde sie Kiefer, Schläfen und Kopfhaut erfassen und schließlich ins Gehirn eindringen, bis die Visionen kamen. Und manchmal entstand dabei das herrliche Gefühl, dass sich das Chaos von Ereignissen und Leben zu Mustern ordnete.
Nur den Barden war es erlaubt, die Seherwurz zu verwenden. Andere, denen die Disziplin einer lebenslangen Schulung im Glauben des Schwarzen Pfads fehlte, konnten von den Einsichten, die das Kraut bot, in die Irre geleitet werden. Der Schlüssel lag in der Erkenntnis, dass sich in den flüchtigen, verschwommenen Visionen nicht die Zukunft zeigte, sondern dass es die Vergangenheit und die Gegenwart waren. In diesen Träumen erblickte Theor die vielen tausend Wege, die eingeschlagen worden waren, um die Gegenwart zu erschaffen. Er erblickte in ihrer Vielfalt die unzähligen Lebensgeschichten – vollendet oder unvollendet –, die der Letzte Gott aus seinem Buch gelesen hatte. Aber er sah nicht, was jenen widerfahren würde, die sich noch auf dem verschlungenen Schwarzen Pfad befanden.
Während er darauf wartete, dass die Wirkung der Seherwurz einsetzte, beobachtete der Führer der Barden die Flamme der Kerze, die neben seinem Bett stand. Ein dumpfes Unbehagen hatte ihn überfallen. Die nächsten Wochen und Monate brachten aller Voraussicht nach einen Krieg, wie ihn die Welt seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr erlebt hatte. Das allein beunruhigte ihn nicht. Der Kall würde erst kommen, wenn die ganze Menschheit im Glauben des Schwarzen Pfads verbunden war; eine solche Einheit aber ließ sich nur durch Krieg und Eroberung erreichen. Und da der Kall selbst unentrinnbar war, würde irgendwann der Glaube siegen, ganz gleich, wie der Kampf diesmal
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