Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Deserteure wurden diese Woche hingerichtet. Sie behaupteten, dass sie dem Ruf des Südens gefolgt seien. Seit dem Fall von Anduran träumen viele von der Heimat und vom Kall.«
»Der Kall wird dereinst von den Barden verkündet, nicht vom Volk. Dies ist nicht die Erneuerung der Welt.«
»Wenn Ihr das sagt. Niemand würde die Zuständigkeit der Barden-Inkall in solchen Fragen anzweifeln.«
Theor wandte sich an Avenn.
»Habt Ihr die Antworten, die wir suchten, Führerin?«
»Zum Teil.« Ihre Sprache war knapp und klar – ein Überbleibsel ihrer ärmlichen Kindheit in den Fane-Gyre-Bergen. »Die Botschaft, die Vana oc Horin-Gyre bei dem Kurier des Hoch-Thans fand, war in einer völlig unbekannten Geheimschrift abgefasst. Wir können sie nicht lesen.« Sie las die Enttäuschung in Theors Augen und sprach rasch weiter, ehe er sie unterbrechen konnte. »Aber Form und Aufbau der Verschlüsselung sind uns vertraut. Niemand aus dem Haus Horin-Gyre hätte sie als das erkannt, was sie ist. Wir hatten Glück, dass Vana einwilligte, sie der Jäger-Inkall auszuhändigen. Wie ich höre, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine abgewandelte Form der Geheimschrift, die Gryvans Schattenhand in Vaymouth einführte.«
»Und der Bote selbst?«, fragte Theor düster. »Was hatte er zu sagen?«
»Er verriet uns alles, was er wusste, bevor er starb. Es war nicht leicht, sein Schweigen zu brechen, aber wir schafften es. Obwohl er nicht lange genug für eine Gegenprüfung überlebte, sind wir überzeugt davon, dass er uns nichts unterschlug. Er war in der Verkleidung eines Schäfers nach Dun Aygll unterwegs. Dort sollte er einen der Märkte aufsuchen und die Botschaft einem Standbesitzer übergeben.«
»Das ist nicht viel«, murmelte Nyve.
»Ich finde, es ist genug«, widersprach Theor.
Avenn nickte. »Wir befassen uns mit Wahrscheinlichkeiten, mit Möglichkeiten. Aber die Einschätzung der Jagd ist klar: Ragnor oc Gyre unterhält einen Briefwechsel mit dem Kanzler des Hauses Haig. Vielleicht sogar mit Gryvan oc Haig selbst.«
»Gryvan und seine Schattenhand – das ist ein und dasselbe«, behauptete Theor. »Der Kanzler und der Hoch-Than halten die Zügel der Haig-Geschlechter gemeinsam in Händen.«
»In den meisten Fällen trifft das zu«, bestätigte die Führerin der Jäger.
Theor seufzte. »Nun, dann wird es Zeit, dass wir einige Entscheidungen treffen«, sagte er. »Das Eis unter unseren Füßen zeigt die ersten Risse. Wir müssen uns nach vorn werfen oder umkehren.«
»Einverstanden«, grollte Nyve. »Unser Hoch-Than versucht die Herrscher gegeneinander auszuspielen. Die Horin-Gebiete sind Gaven und Wyn so gut wie versprochen, falls Kanin nicht zurückkehrt. Die beiden Häuser werden also keine Einwände erheben, wenn Ragnor dem jungen Than die Hilfe verweigert. Unsere Adelsgeschlechter sind ohne Saft und Kraft. Sie haben ihr Erbe vergessen. Wohlstand und Macht in dieser Welt bedeuten ihnen mehr als das Jenseits, und Ragnor fürchtet um seinen Wohlstand und seine Macht, wenn er gegen Gryvan oc Haig Krieg führt. Einzig und allein das Haus Horin hat den Glauben bewahrt, aber nun ist Angain tot, und sein Sohn wird im Stich gelassen.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Dass sich der Gyre-Than so weit vergessen sollte …«
»Es ist noch nicht so lange her, dass die Inkallim einem Gyre-Than halfen, das Haus Horin-Gyre zu demütigen«, wandte Avenn leise ein.
»Das waren andere Zeiten«, entgegnete Theor, »und Ragnors Vater war ein anderer Mann. Er hatte keine Geheimnisse vor uns. Das war auch nicht nötig, denn sein Wille und unsere Absichten nahmen die gleiche Richtung. Was damals im Tal der Steine geschah, stärkte das Haus Gyre, und in jenen Tagen war dies gleichbedeutend mit einer Stärkung des Glaubens. Wir sind an erster Stelle dem Glauben verpflichtet, dann dem Haus Gyre und zuallerletzt der Person des Hoch-Thans. Wenn es daher nun der Glaube und die Herrscherlinie erfordern, können wir keine Rücksicht mehr auf Ragnor selbst nehmen.«
»Wir wissen seit Langem, dass uns der Hoch-Than nicht besonders hoch achtet«, warf Nyve ein. Sein Blick wanderte über den gefliesten Boden, als hätte er eine Münze fallen gelassen und könne sie in dem wirren Muster nicht mehr finden. »Es ist auch seit geraumer Zeit klar, dass eine Zeit kommen könnte, da uns nichts anderes übrig bleibt, als das Ruder fester in die Hand zu nehmen. Ich denke, wir sind uns einig, dass etwas nicht stimmt, dass etwas durch und durch faul
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