Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
zurückgelassen.
»Weder Ess’yr noch Varryn haben sich bisher gemeldet«, sagte Orisian. »Ich dachte, sie wollten bei uns vorbeikommen.«
»Vermutlich haben sie ihre eigenen Schwierigkeiten, jetzt da die Schleiereulen – und vielleicht auch die Glaubenskrieger – ihre Stammesgebiete durchstreifen. Außerdem bleibt uns morgen noch genug Zeit, sie aufzusuchen, wenn sie bis dahin noch nicht hier waren. Sagtest du nicht, dass das Schiff erst am Nachmittag in See sticht?«
Orisian nickte. Yvane bearbeitete ihre Fingernägel energischer als zuvor. Es war offensichtlich, dass sie noch mehr sagen wollte, und er musste nicht lange warten, bis sie ihren Gedanken freien Lauf ließ.
»Ist dir eigentlich klar, welches Gewicht die Kyrinin dem Tod und den Toten beimessen?«
»Einigermaßen.«
»Sie fühlen beständig die Augen der Toten auf sich gerichtet. Sie stellen Speisen bereit, um die rastlosen Toten fernzuhalten, und sie haben ihre Seelenfänger für diejenigen, die sie nicht vertreiben können. Dieser Ra’tyn , den Ess’yr auf sich nahm, ist ein Schwur, den man nicht brechen darf, da er angesichts des nahenden Todes geleistet wird. Wenn sie ihr Versprechen nicht einlösen könnte, würde ihr Versagen den Toten von seinem Schlaf abhalten und ihn so erzürnen, dass er sich weder durch Speisen noch durch Gesang oder Trommeln besänftigen ließe – unabhängig davon, wie sehr er sie im Leben liebte. Es ist eine schwerwiegende Angelegenheit.«
»Und Varryn billigt diesen Ra’tyn nicht.«
»Nein. Ich schätze, dass er Inurian von Anfang an nicht mochte. Die meisten Kyrinin halten von Na’kyrim nicht viel mehr als von Huanin. Varryn war wohl … bekümmert, dass sich seine Schwester mit einem von ihnen eingelassen hatte.«
»Dennoch half er ihr, das gegebene Versprechen zu erfüllen.«
»Er liebt sie. Und sie muss Inurian geliebt haben, dass sie es überhaupt gab.« Sie warf den Zweig beiseite und kratzte sich am Oberarm. »Du verstehst, was das heißt? Ess’yr würde für dich sogar sterben. Wegen dieses Schwurs. Und nur wegen dieses Schwurs. Deshalb hat sie dich bis hierher begleitet. Deshalb blieb sie so lange in deiner Nähe.«
Orisian musterte die Na’kyrim forschend. Sie tat, als bemerke sie seinen Blick nicht.
»Nur deshalb«, sagte er, und sie nickte heftig.
»Und sie hat genug getan, findest du nicht?«
»Mehr als genug.«
»Gut. Bis morgen dann. Morgen kannst du dich verabschieden.«
Orisian wusste sehr genau, dass er Ess’yr vielleicht nie wiedersehen würde, sobald Koldihrve hinter ihm lag, und es wäre verlogen gewesen, wenn er so getan hätte, als sei ihm das gleichgültig. Ihre Nähe hatte etwas tief in seinem Innern geweckt, etwas, das er immer noch hegte und nährte.
»Sie werden es schwer haben, nicht wahr?«, fragte er. »Wenn die Schleiereulen und die Krieger vom Schwarzen Pfad bis hierher vordringen.«
Yvane faltete die Hände im Schoß.
»Vielleicht. Die Füchse waren noch nie ein großer Clan. Und sie haben nicht viele Krieger. Vielleicht bekommen sie Unterstützung von den Herrenlosen von Koldihrve, aber die sind schwer einzuschätzen. Im Allgemeinen halten sie die Köpfe nicht für andere Leute hin. Doch wer weiß? Nur diese grausamen Kriegerhorden vom Schwarzen Pfad glauben, die Zukunft sei bereits in Stein gemeißelt.«
»Das ist Wahnsinn«, murmelte Orisian mit einem Anflug von Bitterkeit. »Nichts von all dem hätte stattgefunden, wenn wir nicht hierhergekommen wären.«
Yvanes Hand zuckte, als wolle sie seinen Gedanken verscheuchen, aber dann blieb sie schwer in ihrem Schoß liegen.
»Vorsicht!«, warnte sie. »Schuldgefühle sind eine gefährliche Sache. Wer immer für diese Ereignisse die Verantwortung trägt – du nicht und deine Schwester ebenfalls nicht. Füchse und Schleiereulen, Wahre Geschlechter und Geschlechter vom Schwarzen Pfad, das sind uralte Kämpfe, die lange vor deiner Geburt begannen. Und die höchstwahrscheinlich noch toben werden, nachdem wir alle im Grab liegen.«
Als ein leiser Ruf vom Schiff her zu hören war, schaute er auf, konnte aber nichts erkennen. Die Dämmerung war in die Nacht übergegangen. Die Fackeln an Bord des Seglers von Tal Dyre leuchteten heller als zuvor. Für einen Augenblick sehnte er sich nach Kolglas oder Glasbridge zurück, träumte davon, endlich etwas anderes tun zu können, als vor seinen Feinden zu fliehen. Doch gleich darauf dachte er mit Schrecken daran, was er dort vorfinden würde. Was es wohl bedeutete, als
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