Wir Ausgebrannten
des ganzen Elends. Womöglich liegt der wahre Grund ja in unserer großen Zukunftsmüdigkeit. Schließlich hatten wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten so viel Zukunft wie kaum eine Generation vor uns. Politische und technische Utopien sind Realität geworden, alte Systeme sind untergegangen und die neuen Systeme füllen uns dermaßen aus, dass wir mittlerweile selber alles als System sehen. Jede Krise in der Welt wird innerhalb kürzester Zeit zur systemischen Krise. Wir besichtigen Phänomene des Scheiterns in der Welt und schließen daraus, dass die ganze Welt Gefahr läuft, demnächst zu kollabieren. Wir sehen das verschämt versteckte Schulterzucken der Politik. Wir sehen die mit Aktionismus eher ungeschickt kaschierte Hilflosigkeit von Politikern angesichts der europaweiten Finanzkrise. Wir sehen, dass die Staatsmacht ihre Instrumente an die Börse und die Banken abgibt. In Italien werden Regierungsämter nicht mehr durch Wahlen besetzt, sondern durch den Kapitalmarkt, um das große wirtschaftliche Desaster wenn schon nicht abzuwenden, so doch unter die Fuchtel eines kühl denkenden Fiskalstrategen zu stellen.
Manche von uns sehen darin den Anfang vom Ende der Demokratie, Menschen, auf deren Bildung man mehr Wert gelegt hat, bezeichnen unseren gesellschaftspolitischen Erschöpfungszustand als postdemokratisch. Mit derlei feuilletonistischen Begriffsraffungen kann man sich eigentlich ganz wunderbar in den sanft nachfedernden Lesesessel werfen und seelenruhig zusehen, wie die Dinge den Bach runtergehen, man hat ja schon das passende Wort dafür. Alles ist post, alles, was wir jetzt machen, findet im Anschluss an die großen Sinnstiftungen statt. Im Grunde genommen lassen wir unsere Beine nach dem gewaltigen Marathonlauf des Lebens und der Arbeit nur noch ein bisschen auspendeln, bevor wir uns erschöpft in den Sand fallen lassen.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in seiner Fernsehsendung kürzlich das schöne nautische Bild gemalt, auf dem die Politiker wie Touristen vor den Armaturen des Steuermanns stehen, ohne zu wissen, wie man mit ihnen verfährt, und sagen: »Oh wie interessant.« Die Frage ist nun: Muss uns die Ratlosigkeit der Politik zutiefst erschüttern oder ist sie, im Gegenteil, dazu angetan, unsere Stimmung zu heben? Schließlich ist es doch so: Wenn man weiß, dass jene, die man für die Problemlösung berufen glaubt, auch nicht weiterwissen, muss man sich selbst in seiner Hilflosigkeit nicht ganz so hilflos vorkommen. Die weltweite Schuldenkrise und die daraus resultierenden politischen Umwälzungen erweckten den Eindruck eines globalen Burnout-Syndroms, sagte der Präsident des Weltwirtschaftsforums WEF, Klaus Schwab, kürzlich bei einem Treffen der Ökonomen in Davos. Das Elend an dieser Diagnose ist nur, dass sich die Welt nicht in eine Klinik am Chiemsee begeben kann. Aber ihre Gestalter und – in Teilen – Lenker wären gar nicht schlecht beraten, wenn sie sich gelegentlich eingestünden, dass sie mit den Mitteln der Politik nicht gegen den Verfall staatlicher und sozialer Ordnungen angehen können. Einfacher gesagt: dass sie angesichts der dramatischen Entwicklungen auf den freien Märkten selbst nicht mehr wissen, wo sie zuerst hinfassen müssen. Wir haben mit den Mitteln der medialen Dauerverfügbarkeit und der wirtschaftlichen Globalisierung die Welt einerseits transparent gemacht, andererseits können wir sie kaum noch überblicken. Welche Ströme fließen von wo wohin? Wer verfügt noch über Kompetenzen in bestimmten Wissensfeldern, die sich längst mit anderen Wissensfeldern vermischt haben? Anders gefragt: Wer überblickt überhaupt noch die aus tausend Miniscreens zusammengesetzte Wirklichkeit und wem trauen wir überhaupt noch zu, Kräfte zu entwickeln, um uns aus unserer Kraftlosigkeit zu retten?
Die große Erschöpfung, die Müdigkeit und die Bereitschaft, all dies einzugestehen, ist zwar noch nicht im Wirkungsfeld der Politik angekommen. Aber sie wird doch inzwischen von dem einen oder anderen Politiker erkannt und auf verschiedene Weise instrumentalisiert. Reportagen und Interviews über die Schattenseiten der politischen Macht, die Grabenkämpfe und Intrigen von Parteigenossen erfreuen sich großen Interesses beim Publikum. Sie zeigen den Machtmenschen von seiner verletzlichen Seite, und die ist ja wieder ziemlich populär geworden. Zeigt uns eure Wunden, das ist unser neutestamentarischer Zuruf an alle Macher und Entscheidungsträger. Erzählt uns, wie ihr gelitten
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