Wir Ausgebrannten
vergessen. Das Bild vom Vuvuzela blasenden Empörten passt ganz gut, wenn es gilt, die Art zu beschreiben, wie wir in Deutschland versuchen, Debatten zu führen und diese nach nur wenigen Tagen verglühen lassen, ohne einen Mehrwert davon zu erhalten. Kaum war die Wulff-Affäre beendet, begann die Gauck-Affäre. Hier speiste sich der Skandalwert nicht aus der materialistischen Gier des designierten Bundespräsidenten, sondern aus dessen Anspruch auf eine eigene, unter Umständen mit dem Common Sense nicht deckungsgleiche Meinung. Gauck hatte sich kritisch zu den Aktivisten der kapitalismuskritischen Bewegung Occupy Wall Street geäußert. Und er hatte Verständnis gezeigt für einige Argumente des umstrittenen Integrationskritikers Thilo Sarrazin. Schon diese beiden Tatbestände reichten Teilen der deutschen Presse aus, um eine umfassende Gesinnungs-TÜV-Prüfung an Gauck vorzunehmen. Ist der Mann geeignet, das höchste Amt im Staat zu führen? Bewegt er sich im gewohnten politisch korrekten Diskursrahmen? Oder ist er nicht im Gegenteil bereits verbrannt, ehe wir ihm die Fackel in die Hand gegeben haben? Auch diese Debatte, kurz und heftig, ging rasch zu Ende, bald darauf entbrannte eine weitere. Sie betraf diesmal keinen Politiker, sondern einen Schriftsteller, nämlich Günter Grass. Dieser hatte in der Süddeutschen Zeitung ein Gedicht veröffentlicht, in welchem er Israel beschuldigt, den Weltfrieden dergestalt zu gefährden, dass es drohe, sich mit einem atomaren Erstschlag von seinem Erzfeind Iran zu befreien. Grass schrieb in dem Gedicht, er habe es mit letzter Tinte geschrieben, es sei also gewissermaßen noch einmal die letzte Zünde eines nahezu Ausgebrannten. Wie gehabt, platzten am Tag darauf sämtliche Hutschnuren sämtlicher Empörungssachverständiger, Antisemitismus war der Hauptvorwurf, er wurde durch alle Fleischwölfe der Medienverwertung gedreht und am Ende war die letzte Meldung, dass Günter Grass für ein paar Tage ins St. Georg Krankenhaus in Hamburg ging, weil er eine seit Langem geplante Herzuntersuchung machen ließ.
Was alle drei Diskussionen – wenn man die länger zurückliegende Sarrazindebatte dazunimmt, sind es vier – gemeinsam haben, ist das Missverhältnis zwischen dem Lärm, den sie machen, und dem Mehrwert, den sie streuen. Keine dieser hysterischen Debatten bringt eine Bereicherung unseres gesellschaftlichen Bewusstseins. Es geht auch nicht mehr um die Qualität von Argumenten, nicht mehr um Rede und Widerrede. In keiner dieser Skandale wurden wirklich Standpunkte ausgetauscht. Es ging vielmehr um die Lautstärke einzelner Äußerungen, um die Grellheit von Anwürfen – je aggressiver, umso rechthaberischer kamen sie herüber. Alles rauscht an uns vorbei oder bestenfalls durch uns hindurch, ohne dass wir die Chance haben, uns irgendeine Haltung dazu zu erarbeiten. Empörung und moralische Skandalisierung stehen uns regelmäßig zur Verfügung, und wir sind es mittlerweile müde, uns darauf einzulassen, weil uns die aufrauschenden Debatten vorkommen wie der Halley ’ sche Komet: Kaum sind sie da, verglühen sie wieder, und wir sind nicht klüger geworden durch sie.
Aber wir erkennen in ihnen, dass unsere politischen und intellektuellen Eliten in einer Weise ausgebrannt sind, dass sie uns, wenn nicht erbärmlich, so doch jedenfalls sonderbar vorkommen. Die Männer und Frauen, denen wir bis vor Kurzem noch die geistige Repräsentanz unseres Landes, zumindest aber unserer Kultur, anvertraut haben, erweisen sich nun als Wiedergänger einer alten Diskurswelt, die uns nichts mehr sagt. Im Gegenzug erleben wir in den Staaten, welche die Freiheit des Wortes und der Tat bis vor Kurzem nicht kannten, eine große Wiederauflage des Begriffs von Freiheit, und wir sind erstaunt darüber. Ach, unser Grass: Wie hat er uns doch befeuert in den 70er-, 80er-Jahren und später auch noch. Er hat uns das Korrektiv zur herrschenden und gestaltenden Politik geboten, er hat uns vor der Wiedervereinigung gewarnt und wir waren nicht ohne Sympathie für den knorrigen, zweifellos in der Eitelkeit beheimateten Literaten und als er 1999 den Nobelpreis erhielt, fühlten wir uns auch in dem Glauben bestätigt, dass unsere Demokratie so viel wert ist wie ihre permanenten Überwacher und Kritiker. Aber dann geriet uns dieser Grass zusehends zu einer Art literarischem Sozialfall. Seine Bücher waren nicht mehr so gut, sie drehten sich um die alten Evidenzen und Steckenpferde ihres Autors, und als er dem
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