Wir Ausgebrannten
sich in Teilen disqualifiziert. Er hat zur Hyperoptimierung seiner Protagonisten geführt; er lenkte arme Leute aufs Glatteis, indem er ihnen suggerierte, auch sie könnten an seinen unerschöpflichen Möglichkeiten teilhaben. Und er schuf Fiktionen, die kaum eine Ideologie derart subtil hinbekommen hat. Viele von uns hat er derart kirre gemacht, dass sie sich eigenmächtig an die Börsen geheftet haben, Spekulanten geworden sind, Besitzer von Eigenheimen und Chamäleons des gesellschaftlichen Wandels. Ganze Länder sind durch den kernigen Finanz-
kapitalismus der Nullerjahre zu Füllhorn-Nationen aufgestiegen. Irland mauserte sich vom Guinness- und Schafe-Idyll zum Tigerstaat, der zwar weiterhin kaum mehr als Guinness und Schafe im Angebot hatte, dafür aber mit einem niedrigen Steuersatz und einem gesetzlichen Mindestlohn für schöne Versprechen bereitstand: Jeder konnte sich sein Eigenheim ersparen, mit Geld, das eigentlich nicht zur Verfügung stand. Heute ist das Land eines der ausgebranntesten Europas und kämpft in der Rangliste der Staaten-Burnouts vorne mit. Auch wenn das Land durch seine Rückkehr auf den Kapitalmarkt zumindest leisen Anlass zur Hoffnung gibt.
Der Kapitalismus hat sich als ähnlicher Gleichmacher verkauft wie sein Gegenpart, der Sozialismus. Beide sind am Ende untergegangen, der Sozialismus ist explodiert, der Kapitalismus implodiert. Er ist nicht in tausend Stücke zersprungen, sondern steht als angekokelter Nosferatu klagend und nach frischem Blut lechzend vor uns. Statt Mitleid mit ihm zu haben, schauen wir jetzt wieder auf die längst tot geglaubten Angebote der Vergangenheit zurück. Warum soll der Marxismus nicht eine Alternative sein? Auf unsere spätmodernen Bedürfnisse zugeschnitten, könnte man ihn sich zum bequemen Gewand umnähen lassen. Er fordert Regulierung, will die Maßlosigkeit dämmen und die Produktionsverhältnisse gerechter machen. Und dem Lebensgenuss war Karl Marx auch nicht abgeneigt, wie wir wissen. Wenn nun schon konservative Denker wie Frank Schirrmacher konzedieren, dass die Linke mit ihren Unkenrufen auf der richtigen Seite war und ist, erscheint der Marxismus als Manufactum-Denkmodell durchaus attraktiv. Die alten Ideologien, mögen sie in ihrer politischen Anwendung auch noch so enttäuschend gewesen sein, waren immerhin Sinnquellen erster Güte. Sie sollten den Menschen derart rüsten, dass er im Leben und in der Arbeit sein Glück finden kann. Und dieses Glück ging in der Gesamtheit der Lebensleistungen auf, und nicht nachdem man irgendeinen Geschäftsabschluss getätigt hatte oder jemanden mit großem Geschick aus dem Rennen bugsiert hatte. »Leistungen«, schreibt Terry Eagleton, »bekommen ihren Sinn erst im Rahmen eines ganzen Lebens und nicht (in der Bergsteiger-Ideologie des Lebens) als isolierte Gipfel des Erfolgs.« Aber wie es aussieht, kriegen wir das Leben als Gesamtkonzept erst dann wieder in unsere Hirne, wenn wir in der Burnout-Klinik sitzen und Supervision machen.
DAS BURNOUT DER POLITIK
Aber machen wir doch zum Spaß mal zwischendurch eine Supervision für unsere Gesellschaft: Wie es aussieht, sind wir Deutschen seit ein paar Jahren der Dinge so müde geworden, dass sich unsere Erschöpfung sogar in der Reproduktionsstatistik niederschlägt. Im Jahr 2010 kamen auf 1000 Einwohner 8,3 Niederkünfte, das ist so wenig, dass wir damit das geburtenschwächste Land in Europa sind. Wir haben auf nichts mehr Lust, wir haben nicht einmal mehr Lust, uns zu vermehren. Warum dem so ist, darüber rätseln Soziologen, Psychologen und Politiker bereits eine gute Weile herum. Und es ist ja keineswegs so, dass es keine Antworten auf die Frage nach der Vermehrungsunlust gäbe. Die eine lautet: schlechte Rahmenbedingungen für Mütter, das heißt kaum Kindertagesstätten respektive unzumutbare Wartezeiten auf einen Platz für das Kind. Daraus resultieren die Scherereien, welche Frauen grundsätzlich haben, wenn sie sich wieder in ihren Beruf eingliedern wollen, hierarchische Rückstufung, gekappte Karrieren, all dies macht natürlich wenig Freude, Kinder auf die Welt zu bringen. Die Sinnressource Familie ist erschöpft.
Flankiert wird all dies durch eine Politik, die auch zu müde ist, sich mit den Bedürfnissen junger Familien auseinanderzusetzen. Eine Politik, die sich als Türwächter der tradierten Sitten versteht, also die Frau eher in den Mittelpunkt des häuslichen Wirkens gesetzt wissen will. Aber vielleicht ist das nur der eine, messbare Grund
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