Wir Ausgebrannten
daranmachen, Projekte für übermorgen zu entwickeln, stecken wir uns Buttons an die Funktionskleidung und zeigen denen, wer das Volk ist. Wir wollen keine Ideen für morgen, die wir heute noch nicht begreifen. Wir stellen eigene Zukunftsberechnungen an, die selbstverständlich denen der Politiker und Experten entgegenstehen. Wir gehen auf die Straße und rufen den Politikern zu, dass sie nicht über unsere Köpfe hinweg entscheiden dürfen. Auch wenn die Entscheidungen in den von uns legitimierten politischen Gremien diskutiert und getroffen worden sind. Und wir suchen uns Symbole, die unsere Entschiedenheit, so zu bleiben, wie wir sind, repräsentieren. In Stuttgart, der Hauptstadt der Bewegung aller Zukunftsmüden, ist es ein alter, ziemlich hässlicher Kopfbahnhof. Ein Sturkopfbahnhof, könnte man sarkastisch wortkaspern. Kein Mensch weiß, was die Zukunft bringt, welche Bedürfnisse in ihr geweckt werden und befriedigt werden müssen. Wir kennen alle nicht die Anforderungen, die in 20, 30 Jahren an unsere Zivilisation gestellt werden, und diese Unsicherheit macht uns zukunftsmüde. Gegen die müd machende Unüberschaubarkeit setzen wir unsere gemütliche, greifbare Jetzt-Welt, wir verfluchen das Globale, bauen auf das Regionale und verteidigen die Umgebung, die sich am bequemsten mit unseren Gewohnheiten verträgt.
Natürlich kostet es Anstrengung, einen Bauzaun mit Plakaten und Protestzetteln zu drapieren, sicherlich ist es mühselig, sich möglichst originelle Parolen auszudenken, mit denen die durchweg korrupte und verlogene Staatsmacht an den Pranger gestellt werden kann. Und zweifelsohne gehört Über windungskraft dazu, sich an alte, dicke Bäume im Schlosspark zu ketten, besonders, wenn man das Rentenalter erreicht hat und vormals den Demonstranten von Mutlangen und Brokdorf aufgrund seiner konservativen Haltung eher skeptisch gegenübergestanden hatte. Aber lieber jetzt ein bisschen Aufwand betreiben, mit dem man den Spuk technischer Utopien per Vuvuzela wegbläst, als sich den anstrengenden Herausforderungen der Zukunft mit Vernunft zu stellen. My home is my Kopfbahnhof. Natürlich beruhen die Schulterschlüsse der wütenden Bürger von Stuttgart auch auf der großen Sehnsucht nach sozialer Erfahrung. Wer sich mit anderen zusammenschließt, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, tritt aus der Isolation der eigenen Traurigkeit aus und kann in einer Gemeinschaft der Stärke aufgehen. Der Protest ist ja ein bewusster Ausstieg aus der Konformität und der bislang fraglos hingenommenen Regularität der Gesellschaft. Die Kühnheit, als Endsiebzigerin mit einer Trillerpfeife auf dem Balkon zu stehen und zu einer bestimmten Uhrzeit mit anderen zusammen den Verantwortlichen den Marsch zu blasen, ist ein Gefühl, auf das man nicht gerne verzichtet und das vermutlich aufregender ist als ein Bridgeabend in der Seniorenwohnanlage. Und trotzdem möchte man den schwäbischen Revolu tionären die Trillerpfeifen aus den Mündern reißen und ihnen raten, sich klarzumachen, wer sie sind und wer die anderen sind. Besitzstandwahrer hier und Zukunftshasardeure da.
Es ist inzwischen unmöglich geworden, in der Welt von heute nicht auch schon die Welt von morgen zu sehen. Anders als andere Generationen vor uns haben wir in den letzten Jahrzehnten die Erfahrung des schnellen und dabei unmerklichen Wandels gemacht. Es gibt nach der digitalen Revolution eigentlich kein Szenario, das nicht denkbar wäre. Und es dürfte sich schwerlich eine Welt in Bernstein gießen lassen, in welcher sich Menschen an das Gewohnte schmiegen wie die Katze an den warmen Kohleofen. Aber wir wollen das Gewohnte erhalten, und am liebsten hätten wir die Segnungen von gestern auch noch zurück. Es steckt ein seltsam müder Zorn in diesem Festhalten am Bewährten. Ein Zorn, der uns samstags die Manufactum-Läden der Städte stürmen lässt, wo wir uns Seifen aus den 20er-Jahren kaufen und das Après-rasage der Großväter auf die Wangen klatschen, um das Aroma der Beständigkeit um uns zu haben. Damals waren die Leute nämlich noch nicht ausgebrannt. Damals waren sie nicht den Zurüstungen für die Zukunft ausgeliefert, jedenfalls stellen wir uns das so vor. Zu Hilfe kommt uns bei dieser Vorstellung, dass unsere Gegenwart ja tatsäch l ich wenig verlässliche Angebote bereithält. Der Kapitalismus, den wir als kluge Zeitgenossen zwar selten champagnertrunken gefeiert, aber als höchstens halb-ideologische Lebensqualitätssicherung geschätzt haben, hat
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