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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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bleiben.»
    «Genau wie bei der Auferstehung von Jesus», sagte der Soldat.
    «Blödsinn», unterbrach ihn Laurids brüsk. «Jesus trug keine Seestiefel.»
    «Er hat auch nicht Petrus’ Arsch gesehen», fügte Lille Clausen hinzu.
    «Genau», sagte Laurids und ließ die Flasche noch einmal kreisen.
    Auch der Soldat wurde eingeladen, und nachdem er einen raschen Blick über die Schulter geworfen hatte, nahm er einen Schluck.
     
    Wir marschierten den ganzen Tag, aber mit unserer guten Laune war es bald vorbei. Es waren vier Meilen bis Rendsburg. Die Bauern kamen aus ihren Häusern und gafften. Wir starrten nicht zurück. Der Trotz war verschwunden. Die meisten von uns sahen in den Staub der Landstraße und gingen stumpfsinnig weiter. Eine bleischwere Müdigkeit hatte uns alle ergriffen, aber wir wussten nicht, ob die schmerzenden Füße oder der Kopf die Ursache dafür waren, dass immer mehr von uns resignierten. Wir wurden apathisch und stolperten ineinander wie Betrunkene,
obwohl nur Laurids das Privileg der Trunkenheit genoss. Entsprechend unbeteiligt war er auch. Er summte beim Gehen vor sich hin, und obwohl er den Herrn besucht hatte, kamen ihm keine frommen Lieder über die Lippen. Schließlich schwieg er und ging mit einem selbstvergessenen Blick weiter, als würde er nun im Gehen seinen Rausch ausschlafen.
    Hin und wieder blieben wir an einem Weiher stehen, um zu trinken. Die Soldaten behielten uns mit gesenkten Bajonetten im Auge, während wir unsere Hüte mit Wasser füllten und herumreichten. Dann marschierten wir weiter. Als wir die Hälfte der Strecke hinter uns hatten, wurden die Wachen abgelöst. Ejnar und Lille Clausen verabschiedeten sich von dem Soldaten. Laurids befand sich in seiner eigenen Welt. Der Soldat schaute ihn sich ein letztes Mal an und wechselte ein paar Worte mit einem preußischen Kameraden, der seinen Platz einnahm. Der blickte skeptisch auf Laurids und schüttelte den Kopf, trotzdem beobachtete er ihn den Rest des Marsches über verstohlen aus den Augenwinkeln.
    Gegen Abend, als es bereits dunkel zu werden begann, erreichten wir Rendsburg. Die Nachricht von der Schlacht war uns vorausgeeilt, und die Landstraße und Wälle waren voller Menschen, die sich die Gefangenen ansehen wollten. Wir passierten das Stadttor und eine Brücke, dann ging es durch das innere Tor, bis wir uns in den engen Gassen im Zentrum der Stadt befanden. Tausende waren hier zusammengekommen, und die Soldaten mussten ihre Gewehre einsetzen, um die Neugierigen auf Abstand zu halten und uns einen Durchgang zu verschaffen. Unter den Zuschauern gab es viele hübsche Mädchen, aber es war kein sehr schönes Gefühl, als wir feststellten, dass ihre Blicke mit Verachtung auf uns lagen.
    Wir wurden in einer großen alten Kirche einquartiert, in der so viel Stroh auf dem Boden lag, dass es eher nach einer Scheune als nach einem Gotteshaus aussah. Den ganzen Tag über hatten wir nichts gegessen; nun wurden Säcke mit Zwieback und warmes Bier ausgegeben. Der Zwieback trocknete uns den Mund aus, er war mehrere Jahre alt. Das Bier bekam uns allerdings gut, und schon bald lagen wir, verstreut in dem großen Kirchenschiff, in tiefem Schlaf.
     
    Am nächsten Tag, es war der Ostersamstag, nahmen wir den Raum und die Schlafmöglichkeiten in Augenschein, fanden einige Freunde und
stellten den Verlust anderer fest. Die Gefangenen kamen sowohl von der Gefion als auch von der Christian VIII. In der Kirche gab es einige Kammern, die mit Stühlen und Gardinen vor den Fenstern ausgestattet waren. Sie wurden sofort in Beschlag genommen; der Besitz eines solchen Zimmers galt als Privileg. Wir Marstaler hatten uns einen Raum oben im Chor gesichert. Auch die anderen steckten mit denen zusammen, die sie von daheim kannten, hier die aus Ærøskøbing, dort die Lolländer, die Fünen und die Langeländer. Wir bildeten eine ganze Landkarte in der reetgedeckten Kirche.
     
    Disziplin kannten wir nicht. Wir waren zu kurz bei der Marine, um eine andere Ordnung akzeptieren zu können als die, die sich in unserem Kopf befand. Man hatte uns die Kriegsschiffe unter den Füßen in Brand geschossen und uns von unseren eigenen Offizieren getrennt. Es gab nur einen Befehl, dem wir gehorchten, und der kam aus dem Bauch. Wenn morgens die Kirchentür aufging und jedem Mann ein Stück Brot ausgehändigt wurde, gab es einen Ansturm auf die Tür, weil alle nur an ihren eigenen Hunger dachten. Zuletzt schmissen die Soldaten das Brot über unsere Köpfe hinweg,

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