Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Strandbatterie vorbei, mit der wir einen ganzen Tag im Feuerkampf gelegen hatten und die schließlich unser Schicksal besiegelte. Selbst die Unkundigsten unter uns mussten nicht ihre Finger benutzen, um sich die Feuerkraft des Feindes auszurechnen. Vier Kanonen! Das war alles. David hatte gegen Goliath gekämpft, und wir waren Goliath gewesen.
     
    Unterwegs wurden wir von mehreren Fuhrwerken überholt. Es waren die Offiziere der Christian VIII. und der Gefion, die sich ebenfalls auf dem Weg in die Gefangenschaft nach Rendsburg befanden. Wir salutierten, als sie an uns vorbeifuhren, und die Offiziere grüßten zurück. Dann waren sie in einer Staubwolke verschwunden. Wir hörten das Rumpeln eines weiteren Wagens und Gelächter. Eine Kutsche mit holsteinischen Offizieren passierte uns. Ein Mann ohne Kopfbedeckung ragte zwischen ihnen heraus.
    «Der Teufel soll mich holen», sagte Lille Clausen, «das war Laurids!»
    «Das habe ich doch gesagt. Er fuhr zum Himmel und kam wieder zurück.»
    Über das Gesicht des kleinen Clausen zog sich ein breites Grinsen.
    «Ja, aber mir ist es egal, wie er es gemacht hat! Das Wichtigste ist, dass er noch lebt.»
    Ein Stück weiter vorn hielt die Kutsche. Die Offiziere stiegen aus und gaben Laurids die Hand. Einer von ihnen steckte ihm eine Branntweinflasche
in die Manteltasche. Ein anderer gab ihm ein paar Geldscheine. Dann hoben sie die Hand zum Gruß und verschwanden. Laurids blieb einen Augenblick stehen und schwankte. Lille Clausen rief ihn. Er sah in unsere Richtung und hob unsicher die Hand. Ein Soldat packte ihn am Arm und jagte ihn ins Glied neben die beiden Marstaler.
    «Laurids!», entfuhr es Lille Clausen. «Ich dachte, du wärst tot.»
    «Das war ich auch», erwiderte Laurids. «Ich habe Petrus’ Arsch gesehen.»
    «Petrus’ Arsch?»
    «Ja, er hob seine Kutte und zeigte mir seinen Arsch.»
    Laurids fischte die Branntweinflasche aus der Manteltasche und ließ sich die farblose Flüssigkeit in den Mund laufen. Er reichte die Flasche Lille Clausen, der einen ordentlichen Zug nahm, bevor er sie an Ejnar weitergab, der noch immer kein Wort gesagt hatte.
    «Versteht ihr», sagte Laurids, «wenn der heilige Petrus einem seinen Arsch zeigt, bedeutet das, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist.»
    «Und da hast du beschlossen, zur Erde zurückzukehren.»
    Es war Ejnar, der endlich das Wort ergriff. Ein verklärtes Strahlen breitete sich über seinem Gesicht aus, und seine Stimme klang erleichtert, als hätte man ihn gerade von einer Anklage freigesprochen.
    «Ich habe es gesehen», sagte er. «Du hast an Deck gestanden, als die Christian VIII. in die Luft flog. Du wurdest hochgeschleudert, mindestens zehn Meter, und dann kamst du wieder runter und bist auf den Füßen gelandet. Lille Clausen behauptet, ich hätte den Verstand verloren. Aber ich habe es gesehen. Du hast es getan. Stimmt es etwa nicht?»
    «Es war heiß wie in der Hölle», sagte Laurids, «aber oben wurde es kühler. Ich sah den Arsch des heiligen Petrus und begriff, dass ich nicht sterben sollte.»
    «Aber wie bist du an Land gekommen?», wollte Lille Clausen wissen.
    «Ich bin gelaufen», sagte Laurids.
    «Du bist gelaufen? Du kannst doch nicht übers Wasser laufen.»
    «Ich bin auf dem Grund gegangen.»
    Laurids blieb stehen und deutete auf seine Stiefel. Seine Hintermänner stolperten gegen seinen breiten Rücken, es kam Unordnung ins Glied. Ein Soldat rannte herbei und gab Laurids einen Stoß mit dem Gewehrkolben.

    Laurids drehte sich um.
    «Nun mal sachte, mal sachte», sagte er mit der Überlegenheit eines Betrunkenen und machte eine beschwichtigende Geste. Dann reihte er sich ein und fand den Marschrhythmus wieder.
    Der Soldat ging weiterhin neben ihm.
    «Es war nicht meine Absicht, dir etwas zu tun», sagte er auf Südjütländisch.
    «Schon verziehen», antwortete Laurids.
    «Ich habe von dir gehört», sagte der Soldat. «Du warst das doch, der mit der Christian VIII. in die Luft geflogen ist und wieder auf den Beinen landete?»
    «Ja, das war ich», erwiderte Laurids mit großer Würde und richtete sich auf. «Mit der Hilfe Gottes und meiner Seestiefel landete ich wieder auf den Beinen.»
    «Der Seestiefel?»
    Nun war Ejnar verwirrt.
    «Ja», sagte Laurids in einem Ton, als wollte er einem Kind etwas erklären. «Dank meiner Seestiefel landete ich wieder auf den Beinen. Hast du jemals versucht, meine Seestiefel anzuziehen? Die wiegen so viel wie die Hölle. Niemand kann damit längere Zeit im Himmel

Weitere Kostenlose Bücher