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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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heiligen Petrus!»
    Laurids stolperte hoch zur Kanzel. Er hatte seine Erhabenheit verloren und war wieder besoffen, wie wir anderen auch. Irgendein Masttopp war die Kanzel nicht. Schwindlig wurde ihm trotzdem, als er oben stand. Das lag am Branntwein. Zweimal hatte er Schiffbruch erlitten. Das zweite Mal hatte er eine ganze Nacht lang auf einer flachen Klippe im Meer vor Mandal gestanden, wo sein Schiff untergegangen war. Er hatte Kummer und Entsetzen verspürt. So nah war er dem Tod gewesen. Das Wasser spülte über seine Füße, während er auf Rettung wartete, die bei Tagesanbruch eintraf, als ein Lotsenboot sich näherte und ihm eine Leine zuwarf. Scham hatte er nicht empfunden, denn man musste sich nicht dafür schämen, vom Meer besiegt zu werden.
    Ein schlechter Seemann war er nicht. So viel wusste er.
    Die Strömung, der Wind und die Dunkelheit waren ungleiche Gegner, während der Schlacht in der Bucht jedoch hatte es keine Bedeutung gehabt, ob er ein guter oder ein schlechter Seemann war. Die Niederlage gegen einen schwächeren Feind hatte ihn zu einem Mann ohne Ehre werden lassen und Kommandant Paludans beschämendes Auftreten ihn mit hinab in die Ehrlosigkeit gezogen.

    Er stand auf der Kanzel und hatte nichts zu sagen. Seine Speiseröhre brannte, er beugte sich vor und erbrach sich.
    Sein Vorgehen wurde mit Jubel und Klatschsalven begrüßt.
    Es war eine Predigt, wie wir sie schätzten.
     
    Den ganzen Tag über war Laurids still. Wieder kamen Offiziere und fremde Bürger, die ihn sehen und von seiner Himmelfahrt hören wollten, doch er blieb in seinem Stroh und drehte ihnen den Rücken zu wie ein Bär in seiner Winterhöhle. Sie boten ihm Geld, aber er ließ sich durch nichts von seiner Unnahbarkeit abbringen; sie mussten wieder gehen. An den folgenden Tagen flaute sein Ruhm ab. Er zerstörte ihn selbst mit seiner Unwilligkeit, obwohl es für ihn ein einträgliches Geschäft hätte werden können, sich herumzeigen zu lassen, Hände zu schütteln und über seine Eindrücke aus dem Jenseits zu berichten. Aber er hatte schlechte Laune und befand sich ganz und gar in den Klauen des Diesseits.
    Er lag auf dem Stroh oder ging mit gerunzelter Stirn auf und ab, die Hände über der Brust gefaltet.
    «Er denkt», sagte Ejnar voller Ehrfurcht.
    Ejnar war das einzig noch verbliebene Mitglied der Gruppe von Anhängern, die zu einer ganzen Gemeinde hätte anwachsen können, wenn Laurids es nur selbst gewollt hätte.
     
    Die Stimmung bei uns Übrigen wurde besser. Wir fanden uns in kleinen Gruppen zusammen, und aus den Ecken der Kirche ertönten Gesang und Musik. Zunächst hatten wir uns nach der Gegend, der Insel oder der Stadt, aus der wir kamen, verteilt. Wir sahen uns fast an, als wären wir Feinde. Doch die Musik vereinte uns wieder. Hier saß ein Inselbewohner neben einem Jütländer, dort ein Lolländer zusammen mit einem Seeländer. Wenn nur die Stimmen zusammenpassten, ertrugen sie den Dialekt des anderen durchaus. Es war allerdings noch immer der Branntweineimer, der unseren Stimmen den Klang gab.
    Nach einigen Tagen erhielt Lille Clausen einen Brief von daheim. Seine Mutter schrieb von dem verhängnisvollen Gründonnerstag, an dem die Schlacht stattgefunden hatte. Ejnar und Laurids setzten sich neben ihn ins Stroh, auch Torvald Bønnelykke kam dazu. Wir waren gespannt,
Neuigkeiten von zu Hause zu hören, und Lille Clausen las den Brief mit unsicherer Stimme und langen Pausen laut vor.
    Bereits in den Morgenstunden hatten sie in Marstal den Kanonendonner gehört, als hätte die Schlacht direkt vor der Mole stattgefunden und nicht auf der anderen Seite der Ostsee. Vor allem während der Predigt von Pastor Zachariassen in der Kirche sei dieses Dröhnen so heftig gewesen, dass der Boden unter ihren Füßen gebebt hatte. Der Pastor war so ergriffen, dass er weinte.
    Gegen Mittag wurde es still. Aber niemand kam wirklich zur Ruhe. Statt nach Hause zu gehen und mittagzuessen, hielten sich die Einwohner in den Straßen auf und diskutierten den Verlauf der Schlacht. Einzelne Kriegskundige wie Schreiner Petersen, der alte Jeppe, ja sogar Madame Weber, allesamt Veteranen der großen Mobilisierungsnacht, als wir glaubten, der Deutsche käme, erklärten mit großer Entschiedenheit, dass es für die Dänen unmöglich übel ausgehen würde. Ein Linienschiff könne niemals von einer Strandbatterie besiegt werden. Die Deutschen hätten die glatte Breitseite abbekommen. Es war die süße Musik des Sieges, der wir den ganzen

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