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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Kümmelbrot, Eier, Butter, Käse, Hering und Papier zu verkaufen. Die Mannschaft der Gefion konnte es sich leisten. Die meisten von uns besaßen noch ihre Seesäcke und Geld, und darüber hinaus hatten die Offiziere die Schiffskasse geöffnet und zwei Speziestaler an jedes Besatzungsmitglied verteilt, bevor sie den Rest des Geldes ins Meer warfen, damit die Deutschen es nicht in die Finger bekamen.
    Wir Marstaler gehörten zu den Privilegierten. Wir waren alle zusammen auf der Gefion gewesen, abgesehen von Laurids, der von der Christian VIII. außer den Kleidern, die er am Leib trug, und seinem Ruf als Himmelsfahrer nichts mitgebracht hatte. Aber seine Taschen waren gefüllt mit Geldstücken, die ihm die neugierigen Deutschen gegeben hatten. Als er sah, dass wir uns versorgt hatten, kaufte er eine Extraportion Proviant und verteilte sie unter den Besatzungsmitgliedern der Christian VIII., die ebenso wie er ohne ihr Eigentum von Bord geflohen waren. Sie nahmen seine Geschenke dankbar entgegen, und diese Geste trug zusätzlich zu seinem Ruhm bei.
     
    Als wir erwachten, war es Ostermorgen. Wir sollten Ostern eingesperrt in einer Kirche zubringen, bekamen aber keinen Pastor zu Gesicht. Wir
lagen auf dem Rücken im Stroh und starrten hinauf zur spitzen Wölbung der Decke, die sich über uns erhob. An den Mauern hingen dunkle Gemälde mit schweren Goldrahmen, überall standen geschnitzte Holzfiguren, und von der masthohen Decke hing ein Kronleuchter. Das war etwas anderes als die Kirche in Marstal mit ihren blau gestrichenen Bänken und nüchternen, weiß gekalkten Wänden. Allerdings stand uns der Sinn nicht nach Andacht. Wir lagen im Stroh und gingen auf Stroh, doch im Stroh lebten auch die Tiere auf einem Bauernhof; daher fühlten wir uns wie Schweine in einem Schweinestall, dessen himmelstrebende Wölbung nicht dazu da war, uns auf einen Feiertag einzustimmen, sondern uns zu verspotten und zu erniedrigen. Wir waren Männer der Niederlage, nicht nur unserer Handlungsmöglichkeiten und Freiheit beraubt, sondern – und das war noch schlimmer – auch unseres Stolzes. Wir hatten nicht mit Ehre gekämpft. Später würde man uns bestimmt erzählen, wir hätten es getan, und eines Tages würden wir es selbst glauben, doch noch war die Erinnerung an diesen fürchterlichen Tag in der Eckernförder Bucht viel zu frisch – und sie erzählte uns etwas anderes. Wir hatten kopflos gekämpft, verängstigt, ja betrunken, um die Angst zu dämpfen. Die tüchtigen Seeleute unter uns waren keine geübten Soldaten, und diejenigen, die sich im Militärischen auskannten, hatten nicht die geringste Ahnung von Seefahrt.
    Kapitän Krieger war zusammen mit dem Porträt seiner Frau in die Luft geflogen, und der Herr mochte seiner Seele gnädig sein, diesem verwirrten, armen Teufel. Doch Kommandant Paludan war als Erster in die Boote gegangen, um sich an Land in Sicherheit zu bringen. War das eine Handlung, die eines solchen Mannes würdig war und vor der ein ehrlicher Seemann Respekt haben konnte?
    Wir saßen in den Strohhaufen und sahen hinauf zu einer Deckenwölbung, die uns als die erbärmlichsten Wesen der Welt zu verspotten schien.
     
    In der Kirche standen an mehreren Stellen Branntweineimer. Bei den Marktfrauen brauchten wir den starken Trank allerdings nicht zu kaufen. Wir bekamen ihn kostenlos, so viel wir wollten. Der deutsche Militärarzt hatte bereits am ersten Tag der Gefangenschaft verfügt, dass Branntwein gut für die Gesundheit sei, und nun gingen wir zu den Eimern
wie die Schweine zum Trog. Ja, wir waren Schweine, die sich im Stroh wälzten und schliefen, Schweine, die noch vor Kurzem dem Schlachtermesser entronnen waren; sicher, unser Leben hatten wir, aber Menschen schienen wir nicht mehr zu sein.
    Außerdem stanken wir. Unsere Kleider hatten wir während der Schlacht beschmutzt. Wir rochen nach unkontrollierten Darmentleerungen und Angst. Ist es etwa das Geheimnis der Männer im Krieg, dass sie ihre Hosen wie erschrockene Kinder mit dem ein oder anderen vollmachen? Es gab nicht einen unter uns, der nicht Furcht davor hatte, auf See zu sterben, aber niemand hatte jemals die Hosen voll, nur weil ein Sturm Mast und Takelage mitriss oder eine Welle das Schanzkleid zerschlug und über Deck fegte.
    Das war der Unterschied. Das Meer respektierte uns als Männer. Das taten die Kanonen nicht.
     
    «Du, Himmelfahrer!», riefen wir Laurids zu und wiesen auf die Kanzel.
    «Es ist Ostern. Predige uns, erzähl uns vom Arsch des

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