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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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und wir prügelten uns wie wilde Tiere darum.
    Ejnar wurde sein Brot aus den Händen gerissen. Lille Clausen bekam einen Tritt vors Schienbein. Nur Laurids stand abseits des ganzen Tumults, als würde er weder Hunger noch Durst kennen. Es waren beschämende Momente, doch die Ordnung, die wir in der Marine exerziert hatten, war vergessen. Nun galt es, eine neue Ordnung zu finden, und ein Handgemenge war ein probates Mittel dafür.
    Die nächste Mahlzeit wurde ausgeteilt, als handelte es sich um ein militärisches Manöver. Ein Major und ein Unteroffizier brüllten ihre Befehle. Sie hatten die Bootsmänner der Gefion und der Christian VIII. mitgebracht, und nun wurden wir jeweils zu acht in die gleichen Gruppen eingeteilt, die wir von den Kriegsschiffen her kannten – es sollte doch ordentlich zugehen, wenn wir Verpflegung bekamen. Wir erhielten einen Löffel und einen Blechnapf und mussten uns am Altar aufstellen. Es war wohl so eine Art Abendmahl, jedenfalls erforderte es unsere ganze Phantasie, um das, was sich in den Blechnäpfen befand, als Mahlzeit zu betrachten. Eine dünne Dörrpflaumensuppe war es, die jeder von uns aus purer Not heraus zu sich nahm. Hinterher legten wir uns ins Stroh,
um zu schlafen. Die Lethargie, die am Tag nach der Niederlage über uns gekommen war, hatten wir noch immer nicht überwunden.
     
    Irgendwann am Nachmittag ging die Kirchentür auf, und eine Gruppe Offiziere trat zusammen mit einigen gut gekleideten Männern ein, bei denen es sich um angesehene Bürger aus Rendsburg handeln musste. Bei ihnen befand sich der preußische Soldat, der Laurids auf dem letzten Teil des Marsches so misstrauisch beäugt hatte. Jetzt ging er suchenden Blicks in der Kirche umher, während die Herren an der Tür warteten. Schließlich entdeckte er Laurids; er hatte ihn gesucht. Der Soldat befahl ihm, sich aus dem Stroh zu erheben, und führte ihn zu der wartenden Gesellschaft an der Kirchentür. Die Herren begannen sich mit Laurids zu unterhalten. Es war klar, dass sie ihn nach irgendetwas befragten, und nach einer Weile geschah das Gleiche wie zwei Tage zuvor, als er auf dem Weg nach Rendsburg den Offizieren Lebewohl gesagt hatte. Sie drückten ihm ein paar Geldscheine in die Hand, bevor sie sich mit großer Höflichkeit von ihm verabschiedeten. Einer der gut gekleideten Bürger lüftete sogar förmlich den Hut.
    Laurids, der Himmelfahrer, war eine Berühmtheit geworden.
     
    Die Geschichte machte nun auch unter den Gefangenen in der Kirche die Runde. Es gab noch ein paar andere Männer, die gesehen hatten, wie Laurids mitgerissen wurde, als die Christian VIII. in die Luft flog, und auf wundersame Weise wieder auf dem brennenden Deck auftauchte, als die Feuersäule zusammengesunken war. Sie hatten geglaubt, sie hätten eine Art Erscheinung gehabt, eine Vision aufgrund der Lebensgefahr im Gefecht und ihrer nervösen Erregung. Bisher hatten sie mit niemandem darüber gesprochen, nun aber traten sie vor und legten Zeugnis davon ab; und rasch scharte sich eine größere Gruppe um Laurids.
    Wir wollten wissen, wieso er keine angesengten Kleider oder Haare hätte.
    «Ich habe angesengte Stiefel», sagte er und streckte einen Fuß vor, so dass wir den Schuh betrachten konnten.
    «Und die Füße?», wollten wir wissen.
    «Die stinken», antwortete Laurids.
    Ejnar konnte seine Augen nicht von Laurids abwenden. Er sah ihn an,
wie man einen Fremden betrachtet. Laurids war für ihn zu einem Fremden geworden. Er behandelte Laurids mit einer linkischen Hochachtung, und es fiel ihm schwer, der alte Ejnar zu sein, wenn er in der Nähe war.
    Lille Clausen billigte das Ereignis oder, besser, nun, da Laurids leibhaftig vor ihm stand, billigte er, dass die anderen an seine Himmelfahrt glaubten. Er selbst war von Anfang an skeptisch gewesen. Nun schloss er sich den Gläubigen an, allerdings mehr zum Spaß, eher so, wie man an einem gemeinsamen Scherz teilnimmt. Laurids war in seinen Augen schon immer ein großer Spaßvogel gewesen. Erst hatte er die ganze Insel glauben lassen, dass der Deutsche käme. Und nun ließ er die Deutschen glauben, er sei gen Himmel und wieder zurück gefahren. Lille Clausen staunte und hatte gewaltigen Respekt vor dieser Leistung. Dieser Laurids, der war doch ein Satanskerl!
     
    Während Laurids seine Geschichte erzählte, füllte sich die Kirche mit Händlerinnen. Es waren Frauen, die die Erlaubnis erhalten hatten, jeden Tag mit ihren Körben in die Kirche zu kommen und Kaffee, Kuchen,

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