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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wollte sie nicht loslassen.

    Hinter ihnen, in der Bucht, die sie an diesem Morgen verlassen hatten, verbrannten achttausend Häftlinge aus Konzentrationslagern, als die Passagierschiffe bombardiert wurden, die man für ihren Transport benutzt hatte. Weitere zehntausend waren auf der Flucht in dem Meer ertrunken, auf dem sie fuhren. Sie wussten es nicht. Sie hatten Schiffe sinken sehen, aber sie hatten niemals ein Schiff mit zehntausend eingesperrten Menschen untergehen sehen. Sie hatten nie diesen kollektiven Schrei gehört, der sich erhob, wenn das Wasser plötzlich überall hereinströmte und das Schiff sinken lässt; diesen Schrei, der nach dem letzten Gebet um Hilfe folgt, wenn die noch Lebenden die bittere Wahrheit erkennen, dass Rettung nur ein Wort ist. Nein, sie wussten nichts davon. Sie hatten diesen ungeheuren Schrei nicht vernommen, und doch spürten sie etwas in dieser Nacht.
    Sie verbrachten die ganze Nacht an Deck, wagten nicht, unter Deck zu gehen. Sie wickelten sich in Decken, die sie auf dem Schiff gefunden hatten. Sie schliefen nicht, sie saßen mit unstetem Blick da und lauschten.
    Auch Bluetooth schlief nicht. Stumm betrachtete er die Sterne, die blasser zu werden begannen.
    Er hörte es zuerst, dieses tiefe Rauschen von Flügeln.
    «Der Storch», sagte er nur.
    Sie schauten auf. Er flog tief über sie hinweg. Noch immer mit Kurs Nordwest. Weit entfernt sahen sie den Leuchtturm von Kjeldsnor im frühen Morgenlicht. Sie näherten sich der Südspitze Langelands.
     
    Am späten Nachmittag tauchte Ærø auf. Sie waren den größten Teil des Tages an der Küste von Langeland entlanggefahren. Die Odysseus ging auf halbe Kraft. Anton reduzierte die Kohle, die allmählich zu Ende ging. Im Norden erkannten sie die Felsen von Ristinge. Dann kam das offene Wasser. Weit draußen im Westen lag Drejet und die Steilküste bei Vejsnæs. Und mittendrin erhoben sich Marstals rote Dächer. Hoch über ihnen ragte der grünspanfarbene Kirchturm mit dem großen Zifferblatt. Die wenigen Masten im Hafen sahen aus wie die Reste eines Palisadenzauns, den man einst errichtet hatte, um die Stadt zu beschützen, der nun aber von einer unbekannten Kraft überrannt worden war. Aus dieser Entfernung konnten sie die flache Landzunge und die Mole nicht ausmachen, die wie ein Arm, der sie nicht länger verteidigen konnte, um die Stadt lagen.

    Ein Stück außerhalb des Hafens wälzten sich schwarze Rauchwolken in die stille Luft. Als sie näher kamen, sahen sie Flammen emporschlagen. Es waren zwei Dampfer, die im Klørdybet brannten. Der Krieg war vor ihnen angekommen. In dem Augenblick, als Marstal auftauchte, war Knud Erik sich so sicher gewesen, dass sie es überstanden hatten. Nun überkam ihn eine große Müdigkeit, fast eine Lähmung, und er dachte, wäre er ein Schwimmer, der versuchte, sich an Land zu retten, dann würde er jetzt aufgeben.
    In Höhe der Dampfer hörten sie das Heulen eines Jagdflugzeugs im Anflug. Sie schauten zum Himmel und entdeckten eine Hawker Typhoon. An einem der Flügel blitzte es auf, und eine Rakete schoss auf sie zu, einen weißen Schweif hinter sich herziehend.
    Dann tat es einen Schlag, der das ganze Schiff erzittern ließ.

    Es war keine gute Zeit für Kinder. Jeden Tag wurden am Strand und auf den Werdern rund um die Stadt Ertrunkene angetrieben, und es waren die Kinder, die sie fanden. Immer holten sie einen Erwachsenen, aber im Grunde war es zu spät. Sie standen da und starrten auf die halb verwesten, halb weggefressenen Gesichter der Toten, und hinterher hatten sie so viele Fragen, die wir nur schwer beantworten konnten.
    Am frühen Morgen des 4. Mai lief eine Fähre in den Hafen ein. Sie kam aus Deutschland und war voller Flüchtlinge. An Bord befanden sich nur wenige Männer, alles Soldaten mit blutigen Bandagen um Arme und Beine. Der Rest bestand aus Frauen und Kindern. Die Kinder sagten kein Wort.
    Sie saßen nur da und starrten vor sich hin. Sie waren blass und hatten dünne Hälse, die aus ihren Wintermänteln herausragten. Die Mäntel sahen aus, als wären sie ihnen viel zu groß, als wären die Kinder wider die Natur kleiner geworden und darin geschrumpft. Offenbar hatten sie lange nichts Ordentliches mehr gegessen. Aber es war vor allem ihr Blick, der uns verstörte. Sie sahen nichts, und wir dachten, dass sie wahrscheinlich zu viel gesehen hatten. Wenn der Kopf eines Kindes mit so vielen hässlichen Eindrücken gefüllt wird, kann er schließlich nichts
mehr aufnehmen. Dann

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