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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dieser Zerstörung lag etwas Systematisches, so, als hätte eine vollkommen andere Existenzform sie betrieben, weder Mensch noch Natur, ein Wesen, dem statt Wasser und Luft das Feuer und die vollkommene Destruktion als Elemente zur Verfügung standen.

    Zum ersten Mal in den beinahe sechs Jahren, die der Krieg nun dauerte, hatten sie das Gefühl, sich nur an seiner Peripherie befunden zu haben. Sie machten es wie die übrigen Passagiere in dem überfüllten Zug, schauten nicht hin und schlugen die Augen nieder. Sie hielten den Anblick nicht aus. Es war das unvorstellbare Ausmaß an Zerstörung, vor dem ihre Gedanken kapitulierten. Sie wussten, dass sie enden würden wie all die Menschen um sich herum, wenn sie sich noch länger hier aufhielten. Sie würden die Hoffnung verlieren, die sie antrieb.
    Sogar Bluetooth sah nicht mehr hin und spielte stattdessen an einem Knopf seines Mantels herum. Er wollte nichts wissen, und Knud Erik dachte, er fragt nicht, weil er klug genug ist, die Antwort nicht hören zu wollen.

    Am 3. Mai stahlen sie um halb fünf Uhr morgens im Hafen von Neustadt einen Schlepper. Sie hatten geplant, sich nach Kiel durchzuschlagen, doch sie mussten sich mit den Transportmöglichkeiten begnügen, die sich boten. Das letzte von Knud Eriks Zigarettenpäckchen hatte ihnen zu einer Passage auf der Ladefläche eines Lastwagens mit Verdeck verholfen, der nach Neustadt fuhr. Der Hafen war menschenleer, als sie den Kai entlanggingen und nach einem Boot Ausschau hielten, das für ihr Vorhaben geeignet war. Bluetooth lag wie ein Hundewelpe zusammengerollt auf dem Schoß von Old Funny und schlief. Es war Anton, der sich für den Schlepper mit dem Namen Odysseus entschied. Als sie an Deck kletterten, erwachte Bluetooth. Er lag in den Armen seiner Mutter, wollte aber sofort an Deck. Er streckte sich und gähnte. Dann gingen die Teleskopaugen auf ihre ewige Jagd nach Neuem im Universum.
    «Seht mal», sagte er und deutete zum Himmel.
    Sie legten den Kopf in den Nacken und schauten hinauf.
    Hoch oben über ihnen flog ein großer Vogel mit langsamen Flügelschlägen in nordwestliche Richtung.
    «Das ist der Storch», erklärte Bluetooth, «das ist Frede.»
    «Ich fange allmählich an, es zu glauben», murmelte Anton. «Sieht aus, als wäre er auf dem Heimweg nach Marstal.»

     
    Auf der Fahrt durch die Lübecker Bucht kamen sie an drei Passagierschiffen vorbei, der Deutschland, der Cap Arcona und der Thielbeck. Sie sahen keinerlei Beatzungsmitglieder, weder auf der Brücke noch auf den Decks. Sie hatten Angst, dass der Diebstahl entdeckt würde und jemand versuchte, sie zu verfolgen. Als sie Abstand zu den Schiffen gewonnen hatten, gingen sie auf volle Kraft. Sie planten, Fehmarn nördlich zu umfahren. Dieser Kurs führte sie ziemlich weit hinaus auf die Ostsee, beinahe ganz bis Gedser, aber dann konnten sie einen westlichen Kurs südlich von Langeland halten. Es war ein Umweg, doch sie wagten nicht, der deutschen Küste zu nahe zu kommen.
    Am frühen Nachmittag hallte ein dumpfes Dröhnen über das Meer. Es folgten weitere, und einen Moment hatten sie das Gefühl, als würde der Himmel über ihnen vibrieren. Rauchfetzen stiegen in der Bucht auf, und sie vermuteten, dass Neustadt angegriffen wurde. Vielleicht waren die Schiffe getroffen worden, die sie vor Anker hatten liegen sehen. Im Lauf des Tages wurde ihnen klar, dass ihre Furcht, der deutschen Küste zu nahe zu kommen, unbegründet gewesen war. Es gab keine Schiffe mehr, die sie hätten verfolgen können. Die Deutschen schienen die Kontrolle über die Ostsee verloren zu haben, stattdessen patrouillierten britische Hawker-Typhoon-Jagdbomber. Wieder und wieder vernahmen sie weit entfernt das schwache Echo explodierender Bomben.
    Es herrschte reger Verkehr auf dem Wasser, aber die meisten Schiffe kamen aus dem östlichen Teil der Lübecker Bucht, wo die russischen Streitkräfte vorrückten. Es waren alle möglichen Boote, Fischer, Frachter, kleine Motorschiffe und Jachten, Küstensegler und Ruderboote mit notdürftig geriggtem Mast und Segeln. Überall am Horizont stiegen nun die Rauchsäulen auf. Ständig sahen sie Wrackteile, und beinahe wären sie in eine Gruppe verkohlter Leichen gefahren, die mit dem Kopf nach unten auf der Wasseroberfläche trieben. Aus der Ferne hatten sie die Toten für Tang gehalten, allerdings entdeckten sie ihren Fehler rechtzeitig genug, um den Kurs zu ändern. Unter den Ertrunkenen befanden sich Frauen und Kinder. Niemand trug eine

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