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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Wahrheit.
    Hoch über ihnen flog ein Storch. Er kam den brennenden Dampfern recht nahe und schien einen Moment in den Rauchwolken zu verschwinden. Dann tauchte er unverletzt auf der anderen Seite wieder auf und flog weiter über die Stadt. Als er das Ende der Markgade erreichte, schlug er die Flügel zusammen und bereitete sich auf die Landung im Nest auf dem Dach von Goldsteins Haus vor.

 
    Gunnar Jakobsen legte an der Dampskibsbro an. Hier standen die meisten Menschen, und obwohl ihn der Anblick von Antons Leiche erschüttert hatte, war er doch der Ansicht, mit einer phantastischen Geschichte zurückzukommen, die ein großes Publikum verdient hatte. Hier brachte er die ersten Marstaler nach Hause, die nach mehr als fünf Jahren Abwesenheit aus dem Krieg zurückkehrten.
    Gunnar Jakobsen hatte nicht daran gedacht, dass die Toten noch immer dort lagen, doch nun wurde der kräftige Mann ohne Beine auf den Kai gehoben und zwischen die zugedeckten Leichen gesetzt. Wir starrten ihn neugierig an, und plötzlich rief Kristian Stærk: «Das ist ja Herman!»
    Je weiter sich die Nachricht verbreitete, desto unruhiger wurden wir, und diejenigen, die nicht wussten, wer Herman war, bekamen es in einer Weise erklärt, die ihm nicht gerade zur Ehre gereichte. Herman hatte sich zwanzig Jahre nicht in Marstal blicken lassen, aber die Erwähnung seines Namens reichte noch immer aus, um diejenigen von uns, die von den Ereignissen auf der Kristina gehört hatten, mit Abscheu zu erfüllen. Er saß so merkwürdig verloren zwischen den Toten und glich mit seinem Arm- und Beinstümpfen einem gestrandeten Walross, das mit den Flossen schlägt. Aber seine Hilflosigkeit brachte uns nicht dazu, ihn weniger zu verachten.
    «Helft mir hoch», sagte er.
    Wir blieben bloß stehen und glotzten. Niemand von uns mochte ihn anfassen, und so blieb er dort sitzen, während eine Wasserpfütze sich unter seinen nassen Kleidern ausbreitete und der massive Körper vor Kälte zu zittern begann.

    In der Kongensgade brüllte ein Mann. Er kam uns entgegengelaufen und wedelte mit den Armen, wobei er weiterhin irgendetwas schrie, das wir aufgrund der Entfernung aber nicht verstanden.
    Im selben Augenblick begannen die Glocken der Kirche zu läuten, in einem wilden, atemlosen Rhythmus, den wir nie zuvor gehört hatten. Als ob jemand nach einer Melodie suchte, die zu einer Begebenheit passte, die sich noch nie zuvor in der Geschichte der Stadt ereignet hatte, weder zu einem Begräbnis noch zu einer Hochzeit, weder zu einem Gottesdienst noch zum Auf- oder Untergang der Sonne.
    Irgendwie, wir wussten selbst nicht, warum, wurde uns klar, dass etwas Großes geschehen sein musste, etwas weit Größeres als die brennenden Dampfer draußen auf dem Wasser oder Hermans überraschendes Auftauchen.
    Denn endlich verstanden wir die Schreie.
    «Die Deutschen haben sich ergeben! Die Deutschen haben sich ergeben!»
     
    Wir sahen Herman, Knud Erik, Helge und die anderen Männer an, deren Namen wir noch nicht kannten, wir sahen die Frau und das Kind an, und wir verstanden, dass sie nur die Ersten waren. Nun würde das Meer die Toten zurückgeben.
    Wir hoben sie auf die Schultern und trugen sie durch die Straßen. Nicht einmal Herman ließen wir in der Pfütze sitzen, die sich unter seinen nassen Sachen gebildet hatte. Wir besorgten einen Handwagen und zogen ihn hinter uns her. Wir riefen Hurra! und marschierten durch die Kongensgade zur Kirkestræde, die Møllergade hinunter, weiter zur Havnegade, die Buegade hinauf, durch die Tværgade und die Prinsensgade hinab, in der Klara Friis wie immer in ihrem Erker saß und mit blassem Gesicht in Richtung Hafen starrte.
    Wir gingen die Havnegade entlang, und während unseres Marsches wurden wir immer mehr. Hier tauchte eine Ziehharmonika auf, dort eine Trompete, ein Kontrabass, eine Tuba, eine Mundharmonika, eine Trommel, eine Violine, und wir sangen «Kong Kristian» und «Whisky, Johnny», «Dies ist ein schönes Land» und «What Shall We Do With The Drunken Sailor» durcheinander. Es gab Whisky und Bier, es gab Rum und noch mehr Bier, es gab Rigabalsam und Genever, alles war für diesen Tag,
von dem wir immer wussten, dass er kommen würde, zurückgehalten worden. In den Fenstern wurden Kerzen angezündet, und in den Straßen brannten die Verdunkelungsgardinen mit einem trockenen Knistern.
    Wir endeten auf der Dampskibsbro, auf der die Toten in einer Reihe lagen und auf uns warteten. Wir tranken und tanzten zwischen den Leichen,

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