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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Stunden alt war. Ständig rutschten wir in glitschigen Blutlachen aus, und die ganze Zeit hatten wir diese grässlich verstümmelten Leiber vor Augen. Nur die Taubheit, die sich längst als Folge des anhaltenden Kanonendonners eingestellt hatte, verhinderte, dass wir das Schreien der Verwundeten hörten.

    Wir wagten kaum, uns umzuschauen, aus Angst, in das Gesicht eines Freundes zu sehen und von einem Blick gefangen zu werden, der um Linderung flehte, aber auch ganz plötzlich in Hass umschlagen konnte – als würden die Verletzten uns, die wir noch auf den Beinen standen, unser Glück vorwerfen und sich nichts mehr wünschen, als ihr Schicksal gegen unseres einzutauschen. Niemand konnte ein tröstendes Wort mit einem anderen wechseln, es wäre ungehört vom Lärm der Kanonen davongetragen worden. Eine Hand auf der Schulter musste reichen. Doch schon jetzt hatte es den Anschein, als würden wir, die wir noch immer unverletzt waren, die Gesellschaft der Privilegierten vorziehen und die Verwundeten meiden, die sicherlich ein wenig mehr Trost verdient hätten. Wir Lebenden verschworen uns gegen die bereits vom Tod Gezeichneten.
    Noch einmal luden wir die Kanonen und zielten, wie es die Geschützführer befahlen, doch längst dachten wir nicht mehr an einen Sieg oder eine Niederlage. Wir kämpften hauptsächlich, um den Anblick der Toten zu vermeiden, denn in unseren Köpfen hörten wir eine Frage wie ein Echo auf all dieses Sterben um uns herum: Warum sie? Wieso nicht ich? Doch wir wollten diese Frage nicht hören. Wir wollten überleben und sahen eine Welt, die sich am Ende eines schwarzen Tunnels aus Eisen befand. Wir hatten die begrenzte Sicht des Kanonenrohrs.
    Der Branntwein hatte seine segensreiche Wirkung getan. Wir waren betrunken und ergaben uns einer berauschenden Gedankenlosigkeit, deren Ursache Entsetzen war. Wir segelten durch ein schwarzes Meer und hatten nur ein Ziel: nicht hinuntersehen zu müssen und auf Grund zu sinken.
     
    Ejnar kletterte aus der Stückpforte und kroch wieder zurück. Es war ein schöner Frühlingstag, und jedes Mal, wenn er sich im milden Sonnenschein zeigte, erwartete er eine Kugel in der Brust. Er brabbelte ununterbrochen vor sich hin, hatte jedoch keine Ahnung, welche Worte ihm über die Lippen kamen. Gefährlich sah er aus, so ruß- und blutverschmiert wie er war. Seine Nase blutete noch immer, und hin und wieder wischte er sich das Blut mit dem Ärmel aus der unteren Gesichtshälfte. Dann legte er den Kopf in den Nacken und hoffte, so die Blutung stoppen zu können. Und die ganze Zeit hatte er diesen bitteren
Geschmack im Mund. Nur wenn er den Rachen mit Branntwein spülte, verschwand er, aber schon bald schmeckte er ihn erneut. Allmählich verwandelte sich seine Anspannung in Apathie, und seine Bewegungen wurden mechanisch. Er war nicht schlechter dran als wir Übrigen. Auch sein blutiges Äußeres und die besudelten Hosen unterschieden ihn nicht von uns. Niemand von uns hatte überhaupt noch irgendeine Ähnlichkeit mit einem Lebenden, eher mit Wiedergängern aus einer längst geschlagenen Schlacht, mit Toten von einem umgepflügten Schlachtfeld, auf dem wir wochenlang vergessen in strömendem Regen gelegen hatten.
     
    Wir sahen, wie die Männer der nördlichen Batterie schon zum dritten Mal abgelöst wurden. Nicht einer der Schüsse der Zinnsoldaten schien sein Ziel zu verfehlen, und wir hatten den Eindruck, als würden die Batterien auf beiden Seiten der Bucht ihre Feuerkraft nun auf uns konzentrieren.
    Um ein Uhr wurde eine Signalflagge im Topp des zusammengeschossenen Riggs der Gefion gehisst. Diese Botschaft war an die Leute auf der Christian VIII. gerichtet: Wir können nicht mehr. Viele unserer Kanonen waren unbesetzt, und die, die weiterhin schossen, waren sämtlich unterbesetzt. Diejenigen von uns, die sich noch auf den Beinen hielten, arbeiteten inmitten von Leichenbergen und Verwundeten, die in ihrer Verzweiflung nach uns griffen, als wollten sie uns in diesem Brei von Eingeweiden, Blut und entleerten Därmen um Gesellschaft bitten.
    Es war ein kodiertes Signal. Der Feind an der Küste der Eckernförder Bucht konnte es nicht verstehen, aber auf der Christian VIII. wurde es registriert.
     
    Das Linienschiff hatte noch nicht diese großen Verluste zu verzeichnen. Früh am Morgen war ein Quartermeister aus Nyborg gefallen, seither hatte es zwei Verwundete gegeben, aber dem Schiff waren die großen, vernichtenden Volltreffer erspart geblieben. Kommandant Paludan

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