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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ging stoßweise, und er legte eine Hand auf den Arm des Freundes.
    «Versprich mir, dass du meinen Seesack zurück nach Marstal bringst. »
    «Du kannst deinen Plunder selbst nach Hause tragen. Hör jetzt auf, bevor du mir auch noch Angst einjagst.»
    Ejnar warf einen beunruhigten Blick auf den Kameraden. Kresten
war der Sohn von Kapitän Jochum Hansen, gleichzeitig Aufseher bei der Hafenbehörde, und Kresten hatte große Ähnlichkeit mit seinem Vater, von den Sommersprossen unter dem rotblonden Schopf bis zu seinem etwas einsilbigen Wesen. Noch nie hatten wir ihn in einem so seltsamen Zustand erlebt.
    «Hier», sagte Ejnar und reichte ihm einen Krug Bier. «Nimm einen ordentlichen Schluck.»
    Er hielt Kresten den Krug an den Mund. Der prustete und verschluckte sich am Bier. Seine Augen wurden glasig. Ejnar klopfte ihm auf den Rücken. Kresten schnappte so keuchend nach Luft, dass ihm das Bier aus den Nasenlöchern schoss.
    «Du Fischkopf.» Ejnar lachte. «Wer hängen soll, ersäuft nicht», sagte er. «Fast hättest du dich selbst umgebracht. Du brauchst den Deutschen überhaupt nicht.»
    Doch Krestens Blick war noch immer weit weg.
    «Die Zeit ist gekommen, da wir erschossen werden», wiederholte er mit dumpfer Stimme.
    «Tja, ich werde jedenfalls nicht erschossen.»
    Es war Lille Clausen, der sich ins Gespräch einmischte.
    «Ich weiß es, weil ich es geträumt habe. Versteht ihr, ich ging den Møllevej hinunter, ich wollte in die Stadt. Zu beiden Seiten stand Militär, bereit zu schießen. Eine Stimme rief: ›Du sollst gehen!‹ Und ich ging. Die Kugeln sausten mir nur so um die Ohren, aber keine traf. Also werde ich heute nicht erschossen. Da bin ich mir sicher.»
    Wir hielten Ausschau über die Bucht und die umliegenden Felder, die von einer Schicht Frühjahrsgrün bedeckt waren. In einem kleinen Wald knospender Lindenbäume versteckte sich ein Hof mit Reetdächern, zu dem ein mit Feldsteinen eingefasster Weg führte. Am Rande des Weges stand eine Kuh und graste. Sie hatte uns ihr Hinterteil zugewandt und schlug träge mit dem Schwanz; sie wusste nichts von dem Krieg, der sich draußen auf dem Wasser näherte.
     
    Die Kanonenstellung auf der Landspitze an Steuerbord war nun sehr nahe. Wir sahen den Rauch, bevor wir den Knall über das Wasser rollen hörten wie ein Unwetter, das unversehens aufzog.
    Kresten zuckte zusammen.

    «Die Zeit ist gekommen», sagte er.
    Ein Feuerstrahl schlug steuerbord aus dem Achterdeck der Christian VIII. Wir sahen uns ratlos an. War das Schiff getroffen?
    Wir waren das Kriegführen nicht gewohnt und wussten nicht, welche Folgen ein Volltreffer haben konnte. Von dem Linienschiff kam keine Reaktion.
    «Wieso schießen die nicht zurück?», fragte Ejnar.
    «Sie liegen noch nicht querab zur Batterie», stellte Lille Clausen sachkundig fest.
    Einen Moment später verkündete eine blaugraue Wolke aus Pulverdampf auf der Steuerbordseite der Christian VIII. , dass sie die Salve beantworteten. Die Schlacht war in vollem Gang. Am Strand spritzten Feuer und Erde auf, und kleine Zinnsoldaten liefen durcheinander. Ein ordentlicher Wind blies aus östlicher Richtung, und kurze Zeit später war es an der Gefion, eine Breitseite zu liefern. Der Knall der großen Sechzigpfundkanonen ließ das gesamte Schiff erzittern; wir hatten das Gefühl, uns würde das Zwerchfell in die Hose rutschen. Wir pressten die Hände auf die Ohren und schrien in einer Mischung aus Furcht und Erschrecken, wie gelähmt von der Schlagkraft der Kanonen.
    Jetzt bekam der Deutsche die volle Breitseite!
    Einige Minuten ging es so weiter. Dann hörten die Schüsse der Batterie auf der Landspitze auf. Wir mussten uns auf das Urteilsvermögen unserer Augen verlassen, hören konnten wir nichts. Es sah aus wie eine Wüstenlandschaft. Schutt türmte sich in großen Haufen. Der schwarze Lauf eines Vierundzwanzigpfünders ragte in die Luft, als hätte er ein Erdbeben erlebt. Niemand rührte sich.
    In einem stummen Siegestanz schlugen wir uns auf den Rücken. Sogar Kresten sah einen Moment so aus, als würde er seine düsteren Vorahnungen vergessen und sich der Ekstase ergeben: Der Krieg war ein Riesenspaß, ein Branntweinrausch, der direkt ins Blut ging. Nur war dieser Rausch größer und reiner. Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, war die Luft vollkommen klar. Nie hatten wir die Welt so deutlich gesehen. Wir schnitten Fratzen wie Neugeborene. Takelage, Masten und Segel wölbten sich über uns wie das Laubwerk eines frisch

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