Wir Kinder der Kriegskinder
Niederlage zu empfinden. Angst haben zu müssen vor dem Triumph in den Augen anderer.“
Auch das mangelnde Gefühl für den eigenen Körper und häufige Hinweggehen über körperliche Erkrankungen in der Generation der Kriegskinder erklärt sich Chamberlain mit den unzureichenden Körperkontakterfahrungen und emotionalen Rückmeldungen dieser Geburtsjahrgänge. Sie glaubt auch, dass die systematische Zerstörung von Bindungen in dernationalsozialistischen Erziehung durch Kinderlandverschickungslager, Land- oder Pflichtjahre, den Arbeitsdienst oder den Dienst als Ost- und Westwallbauer die Entwicklung einer Bindungsstörung fördern konnte: „Viele dieser ehemaligen Kinder haben es schwer zu leben. Sie haben das Gefühl, nicht bindungsfähig zu sein, auch nicht an die eigenen Kinder. Ich traf auf viel Wechsel von Beziehungen und Wohnorten und viel Angst davor, sich überhaupt auf andere einzulassen, beziehungsweise irgendwo „heimisch“ zu werden ... Allerdings begegnete mir auch das scheinbare Gegenteil, nämlich sehr lang andauernde, beständige Verbindungen, für die aber sehr viel an Eigenem aufgegeben wurde – und zwar aus der Angst heraus, wieder verlassen zu werden. Häufiger Wechsel sowie zu langes Festhalten an eigentlich unerträglich gewordenen Situationen haben wohl die gleiche Wurzel: Angst vor dem Verlassenwerden.“
Kriegskinder und ihre Kinder
Viele Kriegskinder haben sich als Erwachsene in Therapien mit ihren Lebensproblemen auseinandergesetzt. Doch nur selten kamen sie dabei auf die spezifischen Belastungen der Kriegskindheit zu sprechen. Kein Wunder: Viele hatten dieser Zeit jahrzehntelang keine Beachtung geschenkt, schließlich drang dieses Thema erst in den letzten Jahren ins öffentliche Bewusstsein, oft verbunden mit der schrittweisen Verrentung der Kriegskinder. Über dem langen Schweigen lag vor allem die Schuld der Deutschen am Holocaust, die unausgesprochene Überzeugung, dass man angesichts der millionenfachen Morde an den Opfern der Nationalsozialisten nicht über das eigene kleine Schicksal klagen dürfe.
Vielleicht hätte es den Kriegskindern aber auch gar nicht gefallen, sich als derart bedürftig zu erleben. Denn sie sehen sich als eine starke Generation, die beruflich viel geleistet hat und ihren Kindern den Wohlstand bieten konnte, den sie selbst früher nicht erleben durfte. Eine soziale Generation, die sich intensiv um andere kümmert und so vielleicht die eigene Bedürftigkeit abwehren konnte. Die es über einen langen Zeitraum verständlicherweise notwendiger fand, sich mit der Schuld Deutschlands auseinanderzusetzen, als den Blick auf die eigenen, persönlichen Verluste zu richten. Für Selbstmitleid war kein Raum im Selbstverständnis dieser Generation – so wurde das eigene Leid verdrängt und verschwiegen.
„Wir haben ja von klein auf erfahren, dass wir nicht wichtig waren“, erklärt mir die 1943 geborene Psychoanalytikerin und Trauma-Expertin Luise Reddemann in einem Interview. „Uns wurde ja gesagt: Ihr seid so klein, ihr habt nichts mitbekommen, alle anderen haben es viel schwerer gehabt. Also denkt man als Kind: Nimm dich nicht so wichtig, streng dich an!“
Ähnlich erlebte es die Psychotherapeutin Charlotte Schönfeldt, Jahrgang 1936: „Unsere eigene Jugend hatte sich in derNachkriegszeit abgespielt und war damit im Wesentlichen ‚ausgefallen‘. Wir erlebten Mütter, die vor und nach dem Kriegsende eine Stärke hatten entfalten müssen, in der wir sie vorher nicht erlebt hatten – und Väter, die verhungert, angeknackst und depressiv aus dem Krieg gekommen waren und sich wieder um die dominante Rolle in der Familie bemühen mussten.“ (Schönfeldt: Kriegskinder und transgenerationale Verflechtungen)
Erst im Zuge der ’68er-Bewegung konnte ein Teil der Kriegskinder die Fähigkeit zur kritischen Hinterfragung nachholen, berichtet Charlotte Schönfeldt. Das gelang aber längst nicht allen: „Ein anderer Teil, die Konservativeren, war darüber entsetzt. Und wieder ein anderer Teil unserer Generation (zum Beispiel viele der Eltern meiner Klientinnen) hat das offenbar in der NS-Erziehung zutiefst eingeprägte unkritische Funktionieren, Leisten, Anpassen beibehalten und an die Kinder weitergereicht. Und wieder ein anderer Teil hat als Eltern das Verdrängte der eigenen Eltern eingekapselt an die nächste Generation weitergereicht oder delegiert.“
Vielleicht konnten sich die Kriegskinder auch kaum mit ihrem Leid beschäftigen, weil eine
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